Tag & Nacht


Als Papst Franziskus im Jahr 2013 zu einem seiner ersten Auslandsbesuche auf die Mittelmeerinsel Lampedusa reiste, war die Symbolik unübersehbar: Die kleine, zwischen Sizilien und Tunesien gelegene Insel ist für viele afrikanische Migranten das Tor nach Europa – ein Ort der Hoffnung wie des Leids. Mit dieser bewussten Geste signalisierte Franziskus frühzeitig, dass seine Amtszeit den Ausgegrenzten, Geflüchteten und Marginalisierten gewidmet sein würde.

Seit der Wahl von Papst Leo I. im Mai dieses Jahres stellen sich viele Katholiken, aber auch außenpolitische Beobachter die gleiche Frage: Wird der neue Pontifex den Kurs seines charismatischen Vorgängers fortsetzen – oder sich davon absetzen?

Ein erster Aufschluss darüber ergab sich in der vergangenen Woche, als Leo zu einer Reise in die Türkei und den Libanon aufbrach. Der Besuch wurde mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit verfolgt – nicht nur wegen der geopolitischen Brisanz der Region, sondern auch, weil sich darin Leos Selbstverständnis als Oberhaupt einer globalen Kirche ablesen lässt.

Geste mit Signalwirkung

Dass Leo seine erste große Auslandsreise in eine Region unternahm, die mehrheitlich muslimisch geprägt ist und von politischen Spannungen erschüttert wird, ist ein bewusstes Signal. Es verweist auf ein Pontifikat, das sich nicht in innerkirchlichen Debatten erschöpfen will, sondern den Dialog mit der Welt sucht – auch dort, wo dieser schwierig ist. Frieden war denn auch das dominierende Thema auf dieser Reise. Schon bei seiner Wahl hatte Leo das Wort „Frieden“ als erstes öffentlich ausgesprochen – eine semantische Brücke zu Franziskus, aber auch ein programmatischer Anspruch.

Während sein Vorgänger sich nicht scheute, in klaren Worten Missstände zu benennen – etwa, wenn er die israelischen Angriffe in Gaza als möglichen „Völkermord“ einstufte – wählt Leo einen zurückhaltenderen Ton. In der Sache jedoch bleibt er klar: In Istanbul und Beirut erneuerte er die vatikanische Unterstützung für eine Zwei-Staaten-Lösung im Nahostkonflikt. Und zum Jahrestag der Angriffe vom 7. Oktober ließ sein Staatssekretär verlauten, sowohl der Hamas-Überfall als auch die militärische Reaktion in Gaza seien als „Massaker“ zu bezeichnen – eine Wortwahl, die auf diplomatischer Ebene durchaus Gewicht hat.

Kontinuität in den Grundwerten

Inhaltlich bleibt Leo in vielen Fragen seinem Vorgänger verbunden. Wie Franziskus betont auch er die Würde der Schwachen, die Verantwortung für die Umwelt und die moralische Pflicht zur Solidarität mit den Armen. Sein erstes offizielles Lehrschreiben widmete er dem Thema Armut – ein bewusstes Zeichen der Prioritätensetzung. In den USA rief er die katholischen Bischöfe auf, sich deutlich gegen Massendeportationen zu positionieren – ein politisches Statement mit klarer gesellschaftlicher Stoßrichtung.

Auffällig ist jedoch, dass Leo neue Akzente setzt. Besonders deutlich wird das bei seiner Warnung vor den Risiken künstlicher Intelligenz, die er nicht nur als technologische, sondern auch als ethische Herausforderung begreift. Hier greift er ein Thema auf, das in der päpstlichen Lehre bislang kaum eine Rolle spielte – und positioniert sich als wacher Beobachter des digitalen Zeitalters.

Der Ton macht den Unterschied

Trotz vieler inhaltlicher Übereinstimmungen mit Franziskus unterscheidet sich Leo im Stil. Wo Franziskus konfrontierte, mahnt Leo. Wo sein Vorgänger mitunter scharf formulierte, setzt Leo auf leise Autorität. Er verzichtet weitgehend auf moralische Appelle und bevorzugt eine Sprache der Vermittlung. Dabei gelingt es ihm, Position zu beziehen, ohne zu polarisieren – eine Kunst, die im aktuellen Klima der Zuspitzung zunehmend selten geworden ist.

Seine Amtsführung lässt sich deshalb als bewusst antipolarisierend beschreiben. In einer Welt, die von geopolitischen und gesellschaftlichen Gegensätzen geprägt ist, versteht sich Leo als Stimme der Mäßigung. Er spricht von Einheit, wo andere Differenz betonen. Er mahnt zum Frieden, wo die Sprache der Stärke dominiert. Und er sucht das Gemeinsame, wo viele das Trennende betonen.

Eine Kirche im Spannungsfeld

Diese Haltung gilt auch für den innerkirchlichen Raum. Die katholische Kirche steht vor tiefgreifenden Spannungsfeldern – von der Rolle der Frau im Amt über den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen bis zur Frage, ob gleichgeschlechtliche Paare Zugang zu kirchlichen Segnungen erhalten sollen. In all diesen Debatten agiert Leo nicht als Reformpapst im klassischen Sinne, sondern als Moderator eines schwierigen Aushandlungsprozesses. Seine Zurückhaltung ist dabei weniger Ausdruck von Schwäche als von strategischer Klugheit: Er will einen Raum des Gesprächs schaffen, ohne die Fliehkräfte zu verstärken.

Ein Papst, der zuhört

Auch in seiner persönlichen Ausstrahlung unterscheidet sich Leo von vielen seiner Vorgänger. Er gilt als humorvoll, verspielt – und menschlich nahbar. Dass er gerne „Wordle“ spielt, mag eine Anekdote sein, doch sie passt ins Bild: Hier ist kein weltfremder Kirchenfürst am Werk, sondern ein Mensch mit Gespür für den Alltag. Wer ihm begegnet, berichtet von einem Mann, der zuhört, der beobachtet, der nicht dominieren will. Ein Papst, der seine Rolle nicht als Zentrum der Welt versteht, sondern als moralischer Kompass in einer aus den Fugen geratenen Zeit.


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Autor: P. Tiko

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