Tag & Nacht


Manchmal reicht ein einziger Abend, um das Gefühl zu haben, dass im Land ein Schalter umspringt. Ein tiefer Atemzug, ein warmes Leuchten, ein kleiner Stich Nostalgie. Genau das passiert immer Anfang Dezember überall in Frankreich, wenn Städte und Dörfer ihre Weihnachtsbeleuchtung anschalten und damit das heimliche Startsignal für die festliche Jahreszeit geben.

Die ersten Funken fliegen früh, oft schon Mitte November. Doch Anfang Dezember, wenn die Temperaturen sinken und die Nächte besonders lang werden, verwandelt sich das Land in ein still vibrierendes Bühnenbild aus Farben und staunenden Gesichtern. Paris, Lyon, Dinard, sogar Monaco – jede Region hat ihre eigene Art, die Dunkelheit zu umarmen und daraus ein Fest zu zaubern.

Und jedes Jahr denkt man: Na gut, diesmal wird’s vermutlich wie immer.

Doch dann steht man wieder dort, irgendwo zwischen funkelnden Kuppeln, leise knisternden Lautsprechern und warmen Atemwolken – und merkt, dass man sich geirrt hat.


Paris. Die ewige Bühne des Lichts

Natürlich muss man mit Paris beginnen. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil die Hauptstadt in diesen Wochen tatsächlich anders wirkt. Der Rhythmus ändert sich. Selbst der Verkehr scheint einen Moment zu zögern, als wolle er Platz machen für jene Millionen Lämpchen, die sich an Fassaden, Bäumen und Boulevards entlangschmiegen.

Die Champs Élysées leuchten seit Mitte November und bleiben es bis zum 4. Januar. Jetzt mal ehrlich – wie oft hat man schon von dieser berühmtesten Allee gehört, gesehen, gelesen? Und trotzdem erwischt es einen, wenn man dort steht und die Lichter sich in den regennassen Pflastersteinen spiegeln. Es ist dieses Gefühl, dass die Straße plötzlich den Atem anhält. Ein paar Sekunden Stille mitten im Großstadtgetöse. Verrückt, oder?

In diesem Jahr haben die Verantwortlichen neue Animationen eingebaut, die klassische Leuchtbögen mit projizierten Motiven und kleinen musikalischen Überraschungen kombinieren. Es wirkt wie ein Dialog zwischen alt und neu, eine Art freundlicher Schulterklopfer: „Na, bereit für die Saison?”

Um die Ecke, auf der Avenue Montaigne oder im Faubourg Saint Honoré, geben sich die schicken Häuser Mühe, nicht nur elegant, sondern auch ein wenig verspielt zu wirken. Paris liebt dieses Hin und Her zwischen Haute Couture und kindlicher Freude. Mal blinkt ein Fenster, mal dreht sich ein leuchtender Stern, mal ertönt irgendwo eine Brass Band, die „Carol of the Bells“ spielt, während eine kleine Menge innehält, lächelt und kurz die Sorgen parkt.

Zwei Straßen weiter probt ein Chor. Ein Tourist fragt auf krummer Grammatik nach dem Weg zur Place Vendôme. Eine Familie mit heißen Marrons streitet halbherzig über den besten Aussichtspunkt. Ein älterer Herr hebt sein Glas Vin Chaud und sagt leise: „Ça commence.”

Und ja – es geht los.


Île de France. Die stille Schwester mit lauten Ideen

Man unterschätzt gern, was außerhalb des Pariser Zentrums passiert. Dabei blüht die Region rund um die Hauptstadt im Dezember regelrecht auf. Val d’Oise veranstaltet Drohnenshows, die wie moderne Laternenfeste wirken. Kleine Gemeinden organisieren Feuerwerke, die mit ihrem Echo gegen die Hügel stoßen.

Manchmal fährt man nur zwanzig Minuten mit der RER und taucht in eine ganz andere Welt ein. Weniger Glamour, mehr Gemeinschaft. Weniger Spektakel, mehr Wärme.

Warum wirkt ein kleiner Marktplatz mit einem Dutzend Lichterketten oft rührender als ein Großboulevard im Schein von tausenden LED Strängen? Gute Frage. Vielleicht weil man spürt, dass die Dekorationen hier mit eigenen Händen aufgehängt wurden. Weil man die Leute kennt. Weil das Lächeln der Nachbarin im Dunkeln heller wirkt als jede Installation.


Dinard. Die Küstenstadt, die leuchtet wie eine Romanfigur

Dann Bretagne. Dinard. Eine Stadt, die schon im Sommer aussieht wie der Schauplatz eines alten französischen Films – aber im Winter? Da legt sie sich ein Kleid aus Licht an, das ihr überraschend gut steht.

Zehn Kilometer Lichterketten. Vierhundert Weihnachtskugeln. Und Menschen, die sich zwischen den Stränden und luxuriösen Villen treffen, als wären sie Statisten einer großen Bühne.

Bei der diesjährigen Eröffnung sprach der Bürgermeister über das soziale Band, das diese Beleuchtungen stärken. Klingt nach PR, aber wenn man dort steht und sieht, wie Kinder den ersten Schneeflocken nachjagen und ältere Paare sich am Arm halten, dann glaubt man es. Man spürt es sogar.

„Ça rassemble,” sagt eine Frau Mitte sechzig mit einer Tasse heißer Schokolade in der Hand. „Man redet wieder miteinander.”

Wie oft hört man so etwas? Und wie selten meint es jemand wirklich?


Lyon. Das leuchtende Herz des Ostens

Weiter östlich, Lyon. Die Fête des Lumières – sie ist keine Weihnachtsfeier im klassischen Sinn, sondern ein kultureller Magnet, der jedes Jahr hunderttausende Besucher anzieht. Die Stadt verwandelt sich in ein Labor für Lichtkünstler. Fassaden erzählen Geschichten, Brücken bewegen sich optisch, ganze Plätze werden zu poetischen Installationen.

Manchmal dauert ein Projekt nur drei Minuten. Und doch gehen Menschen danach schweigend weiter, als hätten sie gerade einen Brief gelesen, den sie noch nicht einordnen können.

Die Tradition geht auf den 8. Dezember 1852 zurück, auf ein altes religiöses Gelübde und Jahre voller Wandel. Aber heute ist die Fête des Lumières viel mehr als eine Erinnerung. Sie ist ein modernes Ritual, eine gemeinsame Geste des Staunens.

Vielleicht liegt genau darin ihre Kraft.


Monaco. Wenn Glanz auf Ritual trifft

Monaco, klar. Der Stadtstaat macht aus jeder Geste ein Highlight. Aber die Weihnachtsilluminationen in Monte Carlo haben tatsächlich etwas berührend familiäres.

Die Fürstenfamilie – Charlène, Albert und die Zwillinge – eröffnet in diesem Jahr ein Lichtspektakel mit einem riesigen Weihnachtsbaum, funkelnden Kugeln und Projektionen auf das berühmte Casino. Kinder sind begeistert, Kameras klicken, Touristen zücken ihre Smartphones.

Alles könnte glatt wirken, fast ein wenig überinszeniert. Könnte.

Doch dann beobachtet man, wie die Zwillinge lachen, wie der Fürst seine Frau ansieht, wie Menschen im Publikum sich über ihre dicken Winterjacken hinweg anstoßen – und plötzlich wird alles weich.

Man versteht, warum diese Rituale bestehen bleiben. Weil sie Gemeinschaft schaffen. Denn was wären Feste ohne den Moment, in dem man gemeinsam „Oh” sagt?


Warum eigentlich all das Licht?

Eine naive Frage? Vielleicht. Aber stellen wir sie trotzdem
– denn manchmal sind die einfachen Fragen die klügsten.

Wozu diese Millionen Lämpchen? Wozu der ganze Aufwand?

Die wirtschaftliche Antwort ist klar: Diese Saison bringt Konsum, Tourismus, Umsatz. Händler, Gastronomen, Hotels – sie alle profitieren davon. Städte investieren, denken über Energieeffizienz nach, setzen auf LED Technik, planen nachhaltiger als früher.

Doch die emotionale Antwort ist die tiefere.

Licht ist ein Versprechen. Eines, das sagt: „Bleib noch ein wenig. Wir schaffen das zusammen.”

Die dunkle Jahreszeit, die Kälte, die Müdigkeit – all das wirkt weniger hart, wenn über unseren Köpfen ein warmes Glühen schwebt.

Und vielleicht liegt in dieser Mischung aus Nostalgie und Neuanfang der wahre Kern des französischen Dezembers.


Ein Land im Lichterfieber

Frankreich leuchtet 2025 intensiver denn je. Und es wirkt, als ob das Land genau das braucht: Räume, in denen man wieder zusammenkommt. Orte, die man betritt und sofort versteht.

Dieselbe Szene wiederholt sich überall: Jemand bleibt stehen und schaut hoch. Dann schaut jemand anderes ebenfalls hoch. Und plötzlich stehen sie nebeneinander, zwei Menschen, die sich nicht kennen und doch denselben Moment teilen.

Ein flüchtiges, aber echtes kleines Wunder.


Reisepläne? Dann los

Wer jetzt unterwegs sein will, hat die Qual der Wahl. Möchte man den edlen Schimmer der Place Vendôme? Oder den salzigen Küstenzauber von Dinard? Oder lieber das künstlerische Kribbeln Lyons?

Und muss man sich überhaupt entscheiden? Gut möglich, dass die beste Erfahrung im Unerwarteten liegt: ein ungeplanter Abstecher, eine süße Kleinigkeit vom Weihnachtsmarkt, ein Gespräch mit einem Fremden an einer Straßenecke, während über euch ein Lichtervorhang tanzt.

Hat man nicht genau dafür Winterabende?


Der letzte Abendhimmel

Es geht nicht nur um Lichter. Es geht nie nur um Lichter.

Es geht um die Geschichten, die Menschen miteinander teilen, wenn die Sonne früh untergeht. Es geht um die Wärme, die Städte erzeugen können, selbst wenn die Luft nach Frost riecht.

Und es geht um diese eigentümliche Mischung aus Melancholie und Hoffnung, die nur der Dezember kennt.

Frankreich strahlt. Nicht weil es sich zeigen will, sondern weil es sich daran erinnert, dass Licht Menschen zusammenbringt.

Und das tut gut.

Ein Artikel von M. Legrand

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