Tag & Nacht


Der Morgen hing noch wie ein dunkler Vorhang über der Bretagne, als die ersten haushohen Wellen am Samstag über die Küsten rollten. Tempête Davide fegte heran, brüllte über die Steilkanten, zerrte an den Hafenseilen und brachte die Menschen entlang der bretonischen und normannischen Küste dazu, kurz innezuhalten – und zu staunen.

Ein Sturm, der den Puls der Region veränderte.

Die Szene wirkt noch nach: kaum Licht, nur das Graublau einer frühen Dezemberstunde, in dem sich die Silhouetten der Buhnen und Hafenmauern abzeichneten. Dazu die Wucht des Meeres, das sich nicht zähmen lässt, sondern – wie ein alter Geschichtenerzähler – wieder und wieder seine Kraft zur Schau stellt.

Wer je einen Wintersturm an Frankreichs nördlicher Westküste erlebt hat, erkennt dieses Gefühl sofort.
Eine Mischung aus Ehrfurcht und Neugier.
Ein bisschen Respekt.
Ein bisschen Abenteuerlust.

Und genau da beginnt unsere Sonntagsgeschichte, mitten im tosenden Herz der Bretagne.


Die erste Gischt des Tages

In Saint-Malo, diesem verwunschenen Ort aus Granit, Touristenströmen und salzigem Wind, peitschten die Wellen schon früh am Morgen über die Straße. Mehr als fünf Meter hoch, sagten die Messgeräte. „Noch höher!“, behaupteten die Einheimischen augenzwinkernd, und man glaubt es ihnen sofort, wenn man das Meer dort beobachtet.

Ein Satz, der fiel, klingt noch im Ohr:
„Je suis une chasseuse de vagues.“
Eine Wellenjägerin.

Die Frau, eine Bordelaise im dicken Wintermantel, grinste wie ein Kind, das sein erstes Karussell entdeckt. Neben ihr stand ihr Partner, die Hände in den Taschen vergraben, ein bisschen durchnässt, aber sichtlich glücklich. „Wenn wir an eine wilde Küste kommen und kein Wind herrscht, dann fehlt etwas“, meinte er – und man spürt, wie sehr die beiden diesen rauen, ungezähmten Moment suchten.

Warum zieht uns dieses Schauspiel so an?
Vielleicht, weil Meereswellen unser Inneres berühren, wie ein alter Rhythmus, den man längst vergessen hat.
Oder weil wir dort, an diesen Rändern der Welt, begreifen, wie klein wir eigentlich sind.


Ein Hafen gibt nach

Während die beiden Touristen ihr Glück suchten, hatte Conquet, ein Hafen im Finistère, andere Sorgen. Die Böen kratzten an der Hundertkilometergrenze. Die Fähren, die normalerweise die umliegenden Inseln ansteuern, blieben vertäut. Keine Überfahrten, kein Risiko.

Auf dem Kai standen ein paar Seeleute und starrten hinaus aufs brodelnde Wasser. Einer schnaubte, zog die Kapuze fester zu, sagte ein knappes „On attend“ – wir warten.

Ein anderer erzählte, halb im Spaß, halb im Ernst:
„Parfois, la mer décide pour nous.“
Manchmal entscheidet das Meer für uns.

Und wie es an diesem Tag entschied.


Ein Sturm, der Geschichten schreibt

Stürme wie Davide prägen die Menschen an der atlantischen Küste seit Jahrhunderten. Manche erzählen, sie seien „mit Salz in der Lunge“ aufgewachsen. Andere sprechen vom Meer, als wäre es ein alter Freund, der manchmal die Geduld verliert.

Eine ältere Dame in gelber Regenjacke, die am Nachmittag in Douarnenez unterwegs war, brachte es charmant auf den Punkt.
„Plötzliche Windböen überraschen dich“, meinte sie, „und deswegen bleib ich lieber von Klippen fern. Bin ja nicht verrückt.“

Ein kurzer, fast frecher Blick.
Dann stapfte sie weiter, den Schal festgeklemmt, als hätte Davide mit ihr noch eine Rechnung offen – oder umgekehrt.


Kleine Szenen am Rand des Sturms

Ein Spaziergänger hielt seinen Hund fest an der Leine, der freudig bellte, weil die Wellen so herrlich wild rochen.

Ein Teenager filmte alles mit seinem Smartphone und rief lachend: „C’est fou!“ – verrückt.

Ein Surfer, der am Strand von Crozon stand, schüttelte nur den Kopf und murmelte: „Pas aujourd’hui…“ – nicht heute. Seine Augen verrieten aber, dass er spätestens morgen wieder dort sein wird, wo Meer und Mut sich treffen.

Und über all dem: die Böen, die Kaimauern, die Gischt, die wie feiner Staub auf jedes Gesicht rieselte.


Zwischen Gefahr und Faszination

Neun Départements entlang der Atlantikküste blieben am Samstagabend unter Beobachtung. Orange Warnstufe hier, gelbe dort. Die Behörden riefen zur Vorsicht auf, und jeder, der das Meer kennt, weiß: gute Idee.

Denn seien wir ehrlich. Hat man nicht schon oft erlebt, dass jemand dachte „Ach, die eine Welle geht noch“, nur um dann pitschnass und leicht beschämt wieder am Rand zu stehen?

Zwei Spaziergänger im Gespräch unterbrachen ihren Weg, als die Gischt über die Mauer schoss.

„Hast du’s gesehen? Das war knapp“, meinte der eine.

„Knapper wird’s nicht“, sagte der andere.

Und beide drehten gleichzeitig um.


Der Nordwesten atmet durch – oder?

Während die Nacht zu Sonntag sich über die Bretagne legte, schien der Wind kurz zu verschnaufen. Doch schon die Wetterdienste kündigten an: Der nächste Schub sei unterwegs. Ein weiterer kräftiger Windstoß am Sonntag. Noch ein Tag voller Unruhe, voller Meer, voller Luft, die zischt und singt.

Wird es wieder so heftig? Wer weiß das schon wirklich.

Aber ist nicht jeder Sturm auf seine eigene Weise ein kleines Kapitel aus dem großen Roman der Küste?

Die Einheimischen nicken.
Touristen staunen.
Und das Meer erzählt weiter.


Eine Region, die mit dem Wind lebt

Die Bretagne und die Normandie tragen Stürme wie Medaillen. Der Wind gehört dazu wie der Salzgeschmack auf den Lippen. Die Straßen sind oft leergefegt, und doch spürt man eine Atmosphäre, die lebendig wirkt.

Man hört Türen schlagen.
Man hört Schiffsmasten klirren.
Man hört sogar das Klacken von Regenjacken, wenn Menschen sie zuziehen, als wollten sie sagen: Na gut, Davide, probier’s ruhig.

In Cafés, die warm leuchten, reden die Leute über die Höhe der Wellen, vergleichen, wer wann wie nass geworden ist, und lachen.
Eine Kellnerin erzählt, dass die Terrasse schon wieder halb davonfliegt.
Jemand meint, es sei „der perfekte Tag für Crêpes und Kakao“.

Und plötzlich wirkt der Sturm gar nicht mehr bedrohlich – eher wie ein alter Bekannter, der mal wieder etwas übertreibt.


Der Zauber der Unberechenbarkeit

Was macht Stürme eigentlich so faszinierend?
Ist es die rohen Kräfte der Natur, die man sonst nur in Dokumentationen sieht?
Oder steckt etwas anderes dahinter – ein Gefühl, dass man schwer in Worte fassen kann?

Vielleicht ist es die Mischung aus Respekt und Romantik. Draußen tobt das Chaos, und drinnen spürt man Wärme, Geborgenheit, ein wenig dieses nordwestfranzösische Lebensgefühl, das irgendwo zwischen Gelassenheit und Abenteuerlust hängt.

Die Menschen dort wissen: Ein Sturm bringt manchmal Ärger, aber auch Geschichten, die man später am Kamin erzählt. Geschichten mit Gischt im Gesicht und Wind im Rücken.


Ein Sonntag voller Fragen

Wie wird der nächste Tag aussehen?
Kommt Davide noch einmal zurück?
Und was bleibt von diesem Samstag, außer nassen Schuhen und klappernden Fensterläden?

Vielleicht bleibt dieses Bild: Ein Paar aus Bordeaux, das lächelnd dem Sturm entgegenblickt. Ein Hafen, der geduldig wartet. Eine ältere Dame, die auf Klippen verzichtet und trotzdem genug erlebt. Kinder, die gackern, wenn eine Welle sie fast erwischt.

Die Bretagne im Dezember ist kein Postkartenmotiv. Kein glattgebügelter Urlaubstraum.
Sie ist ein Erlebnis.
Sie ist Charakter.
Sie ist, wenn man so will, eine Region, die den Mut hat, wild zu sein.

Und manchmal, besonders an Tagen wie dem 6. Dezember 2025, zeigt sie genau das.


Ein letzter Blick auf Davide

Sturm Davide hat nicht nur Wellen hinterlassen, sondern auch diese besondere Stimmung, die man schwer festhält.
Ein bisschen Furcht.
Ein bisschen Faszination.
Ein bisschen „Tu sais quoi, c’était pas si mal“.

Und während der Wind am Abend langsam nachlässt, schaut man hinaus aufs dunkle Wasser und ahnt:
Die See ruht nie wirklich.
Sie sammelt nur Kraft für die nächste Geschichte, die sie erzählen will.

Ein Artikel von M. Legrand

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