Der Tisch ist gedeckt. Kerzen flackern, Stimmen vermischen sich, jemand lacht zu laut, ein anderer hebt das Glas. Früher war darin fast automatisch Wein, Sekt oder etwas Hochprozentiges. Heute schimmert im Glas daneben ein alkoholfreier Aperitif mit Kräuternoten, dort eine feinperlige 0 Prozent Weinvariante, sorgfältig eingeschenkt wie ein Champagner. Kein Ersatz, kein Verzicht. Einfach eine weitere Option.
Und genau darum geht es.
Kurz vor den Feiertagen rückt in Frankreich ein Phänomen in den Mittelpunkt, das leise begann und inzwischen erstaunlich präsent wirkt: alkoholfreie Getränke als selbstverständlicher Teil geselliger Rituale. Nicht als Notlösung für Autofahrer oder Schwangere, sondern als bewusste Wahl – geschmacklich, gesundheitlich, sozial.
Man hört diesen Satz immer öfter, fast beiläufig: Die Idee ist, wählen zu können.
Wenn Verzicht keiner mehr ist
Noch vor wenigen Jahren haftete alkoholfreien Alternativen ein gewisser Beigeschmack an. Süß, langweilig, brav. Wer nichts trank, erklärte sich. Heute muss sich niemand mehr rechtfertigen. Die Kategorie NoLo, also No oder Low Alcohol, hat sich neu erfunden. Und sie tut das mit erstaunlicher Kreativität.
Es geht nicht mehr nur darum, Alkohol wegzulassen. Es geht um Aromen, Texturen, Rituale. Um das Gefühl, dazuzugehören, ohne die Kontrolle abzugeben. Besonders jüngere Erwachsene treiben diese Entwicklung voran. Sie trinken weniger, aber bewusster. Sie fragen nach Herkunft, Zutaten, Wirkung. Und sie möchten morgens nicht mit schwerem Kopf aufwachen – wer will das schon?
Diese Haltung passt in eine Zeit, in der Selbstfürsorge kein Randthema mehr ist. Körperliches Wohlbefinden, mentale Klarheit, Balance. Begriffe, die früher nach Ratgeber klangen, tauchen heute in ganz normalen Küchengesprächen auf.
Zahlen, die eine Geschichte erzählen
Der Markt reagiert. Und zwar deutlich. In Frankreich wächst der Umsatz mit alkoholfreien Getränken seit Jahren konstant. Prognosen zeigen, dass sich der Markt bis zum Ende des Jahrzehnts nahezu verdoppelt. Europaweit zeichnen Studien ein ähnliches Bild: Milliardenumsätze, zweistellige Wachstumsraten, neue Marken im Monatsrhythmus.
Das wirkt nüchtern betrachtet nach Statistik. Doch hinter diesen Zahlen stecken Abende, an denen jemand zum ersten Mal bewusst zum alkoholfreien Sekt greift. Familienfeste, bei denen mehrere Flaschen ohne Alkohol auf dem Tisch stehen. Bars, die ihre Karte umdenken.
Ein Barkeeper in Paris erzählte kürzlich, dass Gäste heute gezielt nach alkoholfreien Signature Drinks fragen. Nicht entschuldigend, sondern neugierig. „Überrasch mich“, sagen sie. Früher kam diese Aufforderung fast ausschließlich mit Alkohol.
Geschmack als Argument
Der eigentliche Gamechanger liegt im Glas. Die neuen Produkte schmecken schlicht besser. Winzer investieren in schonende Entalkoholisierung, Brauereien entwickeln eigene Hefen, Start ups experimentieren mit Botanicals, Tees, Gewürzen.
Alkoholfreie Biere zeigen heute Malz, Hopfen, Bitterkeit. Nicht perfekt identisch mit dem Original, aber eigenständig. Entalkoholisierte Schaumweine setzen auf Frische und feine Säure. Mocktails kombinieren Wacholder, Zitruszeste, Rosmarin oder Ingwer zu komplexen Profilen, die nichts Vermisstes mehr transportieren.
Manchmal fühlt sich das an wie ein kleines Aha Erlebnis. Ach, so schmeckt das also ohne Alkohol.
Dazu kommen funktionale Zutaten: Adaptogene Pflanzen, Elektrolyte, fermentierte Komponenten. Der Drink verspricht nicht nur Genuss, sondern auch ein gutes Gefühl danach. Kein Wunder, dass viele diese Getränke auch außerhalb klassischer Feiermomente trinken – beim Kochen, beim späten Arbeiten, einfach so.
Eine stille soziale Revolution
Geselligkeit ohne Alkohol galt lange als Widerspruch. In vielen Kulturen war Alkohol das Schmiermittel sozialer Nähe. Wer nicht trank, fiel auf. Heute verschiebt sich diese Norm langsam, aber spürbar.
In Gesprächen rund um Weihnachten oder Silvester taucht ein Gedanke immer wieder auf: Niemand soll sich ausgeschlossen fühlen. Der „trockene Januar“ und ähnliche Initiativen haben diese Offenheit vorbereitet. Sie haben gezeigt, dass zeitweilige Abstinenz kein Angriff auf die Feierkultur ist.
Das Ergebnis: Gastgeber planen anders. Neben Wein stehen alkoholfreie Alternativen auf Augenhöhe. Nicht versteckt in der Ecke, sondern mitten auf dem Tisch. Das sendet ein Signal. Du darfst entscheiden.
Ist das nicht eigentlich der Kern von Gastfreundschaft?
Alltag statt Ausnahme
Bemerkenswert ist auch, wie sich die Anlässe verändern. Alkoholfreie Getränke verlassen die Nische besonderer Umstände und werden Teil des Alltags. Ein Apéritif nach der Arbeit, ein Mittagessen mit Kollegen, ein Sonntagsbrunch. Der Griff zum alkoholfreien Drink braucht keinen Grund mehr.
Gerade in urbanen Räumen zeigt sich dieser Wandel schnell. Cafés erweitern ihr Angebot, Restaurants pairen Menüs mit alkoholfreien Begleitungen. Selbst Sterneköche beschäftigen sich mit der Frage, wie man Geschmack ohne Alkohol dramaturgisch aufbaut.
Natürlich läuft nicht alles reibungslos. Manche entalkoholisierte Weine wirken noch flach, manche Preise überraschen. Die Erwartungshaltung ist hoch, denn niemand möchte für weniger Inhalt mehr zahlen. Doch auch hier bewegt sich etwas. Qualität steigt, Vielfalt wächst, Preise differenzieren sich.
Skepsis gehört dazu
Nicht jeder Jubel ist angebracht. Kritische Stimmen weisen darauf hin, dass alkoholfrei nicht automatisch gesund bedeutet. Zucker, Zusatzstoffe, Marketingversprechen – all das bleibt Thema. Zudem hängt der Erfolg vieler Produkte davon ab, wie sehr Konsumenten bereit sind, neue Geschmacksbilder zu akzeptieren.
Ein Glas alkoholfreier Wein schmeckt anders. Punkt. Wer das Gegenteil erwartet, erlebt Enttäuschung. Wer offen probiert, entdeckt Neues. Diese Lernkurve braucht Zeit. Doch genau diese Zeit scheint die Branche gerade zu bekommen.
Und mal ehrlich – erinnern wir uns nicht alle an das erste IPA, das uns viel zu bitter erschien?
Die Feiertage als Bühne
Kaum eine Zeit eignet sich besser für diesen Wandel als die Feiertage. Hier verdichten sich Rituale, Erwartungen, Emotionen. Hier wird angestoßen, oft mehrfach, manchmal aus Gewohnheit.
Alkoholfreie Alternativen öffnen diese Momente. Sie erlauben Teilnahme ohne Nebenwirkungen. Sie ermöglichen, am nächsten Morgen präsent zu sein, klar im Kopf, bereit für den Spaziergang nach dem Festessen.
Ein Gastgeber aus Lyon erzählte, dass er dieses Jahr bewusst mehrere alkoholfreie Optionen einkauft. „Nicht aus Pflichtgefühl“, sagte er, „sondern weil sie gut ankommen.“ Einige Gäste wechselten im Laufe des Abends ganz selbstverständlich zwischen beiden Welten.
Ist das nicht genau die Freiheit, von der so oft die Rede ist?
Mehr als ein Trend
Was hier entsteht, wirkt nicht wie eine kurzfristige Mode. Es fühlt sich eher an wie eine leise Neuordnung. Die Gesellschaft verhandelt ihr Verhältnis zum Alkohol neu, ohne moralischen Zeigefinger, ohne Verbot. Einfach durch Auswahl.
Alkoholfreie Getränke stehen dabei symbolisch für etwas Größeres: die Idee, dass Genuss viele Formen kennt. Dass Feiern nicht an Promille gebunden ist. Dass Qualität nicht automatisch Alkohol braucht.
Manchmal genügt ein gutes Glas, ein ehrlicher Geschmack, ein gemeinsamer Moment. Der Rest ergibt sich.
Am Ende dieser Entwicklung steht kein Entweder Oder. Sondern ein Sowohl als auch. Und das passt erstaunlich gut zu festlich gedeckten Tischen, an denen unterschiedliche Lebensentwürfe zusammenkommen.
Ein Hoch auf die Wahlfreiheit – und auf das, was wir daraus machen.
Ein Artikel von M. Legrand
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