Tag & Nacht


Freitag: Es war tief in der Nacht von Los Angeles, als im Saal kurz Stille herrschte. Ein Atemzug. Dann Applaus, erst zögerlich, dann donnernd. Auf der Bühne die Worte, die alles veränderten: Game of the Year. Und plötzlich stand Frankreich im Zentrum einer Branche, die sonst gern nach Kalifornien, Tokio oder Warschau blickt. Clair Obscur: Expedition 33 hatte Geschichte geschrieben.

Manchmal fühlt sich ein Moment größer an als die Summe seiner Fakten. Neun Trophäen, zwölf Nominierungen, eine Premiere für ein französisches Studio – das alles liest sich beeindruckend. Doch die eigentliche Bedeutung dieses Abends erschließt sich erst, wenn man einen Schritt zurücktritt und genauer hinschaut. Was sagt dieser Triumph über die Spieleindustrie, über Kreativität, über Mut aus? Und warum berührt er so viele Menschen weit über die Gaming Szene hinaus?

Ein Spiel aus Montpellier. Kein Branchenriese, kein Milliardenbudget, kein Marketingdonner über Jahre hinweg. Sondern ein Team, das an eine Idee geglaubt hat.

Schon das allein klingt fast wie ein modernes Märchen.

Der Saal in Los Angeles glänzte wie immer. Scheinwerfer, Kameras, Stars aus der Spielewelt. Die Game Awards gelten nicht ohne Grund als Oscars der Branche. Hier zählt jede Sekunde Aufmerksamkeit, hier wird Geschichte geschrieben oder vergessen. Als Clair Obscur: Expedition 33 aufgerufen wurde, rechneten viele mit Anerkennung, vielleicht einem Kunstpreis, vielleicht Musik oder Erzählung.

Aber Spiel des Jahres?

Eine kurze Pause – dann Gewissheit.

Zum ersten Mal stand ein französischer Titel ganz oben. Kein Wenn, kein Vielleicht. Einfach ganz oben.


Wer Sandfall Interactive bis zu diesem Abend nicht kannte, gehörte plötzlich zur Minderheit. Das junge Studio aus Montpellier hatte zuvor vor allem in Fachkreisen für neugierige Blicke gesorgt. Ein Erstlingswerk, ambitioniert, eigenwillig, stilistisch mutig. Ein Projekt, das nicht versuchte, Trends zu kopieren, sondern eigene Wege ging.

Genau das hat sich ausgezahlt.

Clair Obscur: Expedition 33 entführt in eine Welt, die an die Belle Époque erinnert und zugleich fremd wirkt. Zahnräder, Verfall, Schönheit, Melancholie. Alles greift ineinander. Die visuelle Sprache erzählt fast genauso viel wie die Dialoge. Und die Geschichte nimmt sich Zeit. Sie hetzt nicht. Sie vertraut darauf, dass Spieler zuhören, fühlen, zweifeln.

Wer heute spielt, sucht nicht nur Mechaniken. Er sucht Bedeutung. Und genau da setzt dieses Spiel an.


Neun Auszeichnungen an einem Abend – das passiert selbst großen Studios selten. Beste künstlerische Leitung, bestes Szenario, beste Regie, bestes Rollenspiel, beste Musik. Dazu die Ehrung für Jennifer English, deren Stimme der Figur Maëlle Tiefe und Verletzlichkeit verlieh. Jede einzelne Kategorie hätte für sich gereicht, um stolz zu sein.

Zusammen wirkten sie wie ein Statement.

Hier ging es nicht um Technik allein. Hier ging es um Haltung.


Auf dem roten Teppich zeigte sich diese Haltung auf unerwartete Weise. Keine maßgeschneiderten Anzüge, keine distanzierte Coolness. Stattdessen Marinières, Barette, karierte Stoffe – fast wie ein Augenzwinkern in Richtung Herkunft. Ein bisschen verspielt, ein bisschen trotzig, sehr bewusst.

Man muss sich das vorstellen: Inmitten einer globalen Industrie, die oft auf Uniformität setzt, tritt ein Team auf und sagt nonchalant: Wir sind so. Punkt.

Vielleicht lag genau darin ein Teil der Magie.


Für Frankreich bedeutet dieser Erfolg mehr als eine Trophäe. Jahrzehntelang galt das Land als kreativ, als stark in Kunst, Film, Literatur. Videospiele? Eher ein Randthema, oft unterschätzt, manchmal belächelt. Natürlich gab es Ausnahmen, erfolgreiche Studios, bekannte Namen. Doch der ganz große internationale Ritterschlag blieb aus.

Bis jetzt.

Plötzlich steht fest: Ein französisches Spiel kann nicht nur mithalten, sondern Maßstäbe setzen. Es kann Jury und Publikum gleichermaßen überzeugen. Und es kann eine eigene kulturelle Handschrift tragen, ohne sich anzubiedern.

Ist das nicht genau das, wovon Kreative immer träumen?


Interessant ist auch der Zeitpunkt dieses Erfolgs. Die Branche befindet sich im Umbruch. Riesige Produktionen verschlingen enorme Budgets, Studios schließen trotz Verkaufsrekorden, Spieler äußern Müdigkeit gegenüber immer gleichen Formeln. In diesem Klima gewinnt ein Spiel, das leise beginnt, sich Zeit nimmt und auf Atmosphäre setzt.

Ein Zeichen?

Viele Beobachter sprechen von einer neuen Wertschätzung für kleinere Studios. Für Teams, die Risiken eingehen und Geschichten erzählen, statt Checklisten abzuarbeiten. Clair Obscur passt perfekt in diese Entwicklung. Es zeigt, dass Größe nicht alles ist. Dass Fokus, Stil und Überzeugungskraft zählen.

Und ja – auch ein bisschen Sturheit.


Wer mit Entwicklern spricht, hört oft ähnliche Geschichten. Lange Nächte, Zweifel, hitzige Diskussionen. Momente, in denen alles auf der Kippe steht. Bei Sandfall Interactive war das nicht anders. Der Unterschied: Sie blieben ihrer Vision treu. Selbst als es einfacher gewesen wäre, Kompromisse einzugehen.

Man spürt diese Konsequenz im fertigen Spiel. In jeder Einstellung, jeder musikalischen Phrase, jedem stillen Moment zwischen zwei Dialogzeilen. Das Werk wirkt geschlossen, fast persönlich. Als würde jemand eine Geschichte erzählen, die ihm wirklich etwas bedeutet.

Und genau das berührt.


Auch international fiel die Reaktion eindeutig aus. Kritiker lobten die narrative Tiefe, Spieler teilten Screenshots, diskutierten Theorien, empfahlen das Spiel weiter. In Foren tauchten plötzlich französische Begriffe auf, Namen, Orte, Anspielungen. Eine kleine kulturelle Invasion – ganz ohne Zwang.

Vielleicht liegt darin die größte Leistung: Clair Obscur erklärt nichts. Es lädt ein. Wer eintaucht, entdeckt von selbst.


Natürlich bleibt die Frage, was dieser Sieg langfristig bewirkt. Wird er Türen öffnen? Investoren mutiger machen? Nachwuchsentwickler ermutigen, eigene Ideen zu verfolgen? Wahrscheinlich von allem ein bisschen. Solche Erfolge wirken selten sofort, aber sie hinterlassen Spuren.

In fünf oder zehn Jahren wird man vielleicht sagen: Damals hat sich etwas verschoben.

Oder man erinnert sich einfach an diesen Abend, an den Applaus, an das kurze Innehalten, bevor der Jubel losbrach.


Zwischendurch, ganz leise, hört man auch Skepsis. Erwartungsdruck, der nun auf Sandfall Interactive lastet. Kann man so einen Erfolg wiederholen? Muss man das überhaupt? Gute Fragen. Vielleicht sogar die falschen. Denn Kunst entsteht selten aus dem Wunsch nach Wiederholung.

Manchmal reicht es, einen Moment ehrlich zu gestalten.

Alles andere folgt oder eben nicht.


Wer das Spiel heute startet, tut das mit einem anderen Blick als noch vor den Game Awards. Man weiß um die Auszeichnungen, um die Geschichte dahinter. Und doch entfaltet sich Clair Obscur: Expedition 33 am besten, wenn man all das kurz vergisst. Wenn man sich einfach treiben lässt, von Musik, Bildern, Worten.

Wie bei einem guten Roman an einem verregneten Sonntag.


Am Ende dieses Triumphs steht kein Schlussstrich, sondern ein Doppelpunkt. Für Sandfall Interactive beginnt ein neues Kapitel. Für die französische Spielebranche ebenfalls. Und für Spieler weltweit bleibt ein Werk, das zeigt, wie viel Kraft in einer klaren Vision steckt.

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ein Spiel über Vergänglichkeit und Hoffnung so nachhaltig wirkt?

Vielleicht passt das besser zusammen, als man denkt.

Ein Artikel von M. Legrand

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