Es ist ein Urteil, das schwer im Raum steht. Zehn Jahre Haft, ausgesprochen von der Pariser Sonderassisenkammer, gegen eine 30-jährige Französin, die Jahre ihres jungen Lebens im Machtbereich des sogenannten „Islamischen Staates“ verbracht hat. Carole Sun, so ihr Name, gehört zu jener kleinen, hoch umstrittenen Gruppe von Frauen, die Frankreich aus den Lagern im Nordosten Syriens zurückgeholt hat – und nun vor Gericht stellt. Der Fall ist exemplarisch, und gerade deshalb politisch wie gesellschaftlich brisant.
Sun hatte Frankreich im Sommer 2014 verlassen. Sie war gerade einmal 18 Jahre alt, als sie gemeinsam mit ihrem Bruder nach Syrien reiste, mitten hinein in die Phase territorialer Expansion des IS. Die Bilder von schwarzen Fahnen, martialischer Propaganda und vermeintlicher religiöser Klarheit dominierten damals die einschlägigen Online-Netzwerke. Auch Sun radikalisierte sich, wie sie später vor Gericht einräumte, im Internet. Ein Klick führte zum nächsten, aus Neugier wurde Überzeugung, aus Überzeugung Handlung. Zack – raus aus dem Alltag, rein in den „Dschihad“, wie es in den Foren hieß.
Die französische Justiz wirft ihr die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vor, genauer: die Beteiligung an einer kriminellen, terroristischen Verschwörung. Während ihres Aufenthalts in Syrien lebte sie in Gebieten unter IS-Kontrolle, heiratete zweimal, zuletzt einen Mann aus dem Geheimdienstapparat der Organisation. Sie bewegte sich im Umfeld von Personen, die später mit den Anschlägen vom November 2015 in Paris in Verbindung gebracht wurden. Die Nähe zur Gewalt war real, auch wenn sie sich selbst zu keiner direkten Tatbeteiligung bekannte.
Vor Gericht schilderte Sun ihr Leben im Kalifat und später in den Lagern als geprägt von Entbehrung, Angst und zunehmender Ernüchterung. Über vier Jahre verbrachte sie in Haftlagern, kümmerte sich dort um ihre Kinder, lebte unter Bedingungen, die internationale Organisationen wiederholt als unmenschlich beschrieben haben. Sie räumte ein, propagandistisch für den IS tätig gewesen zu sein – ein Punkt, der für die Anklage zentral blieb. Keine bloße Mitläuferin, sondern Teil des Systems, so das Bild der Staatsanwaltschaft.
Das Urteil reiht sich ein in eine Serie von Verfahren gegen sogenannte „Revenantes“, Frauen, die Frankreich verlassen hatten, um sich dem IS anzuschließen, und die nun – nach militärischer Niederlage des Kalifats – zurückgeholt wurden. Erst wenige Wochen zuvor hatte dasselbe Gericht drei weitere Rückkehrerinnen zu Haftstrafen zwischen zehn und 13 Jahren verurteilt. Seit 2017 standen rund 30 Frauen vor französischen Gerichten, teilweise auch wegen der Vernachlässigung ihrer Kinder, die sie in das Kriegsgebiet mitgenommen hatten.
Diese Prozesse sind mehr als juristische Routine. Sie sind der sichtbare Ausdruck eines ungelösten Dilemmas. Frankreich steht vor der Aufgabe, seine Sicherheitsinteressen zu wahren, Terrorismus konsequent zu bestrafen und zugleich rechtsstaatliche Prinzipien einzuhalten. Die Entscheidung, Staatsbürgerinnen aus syrischen Lagern zurückzuholen, fiel nicht aus politischer Bequemlichkeit, sondern aus rechtlicher Notwendigkeit. Internationale Gerichte und Menschenrechtsorganisationen hatten den Druck erhöht, die Verantwortung nicht an lokale Milizen auszulagern.
Im Sommer 2022 wurden schließlich 51 Frauen und Kinder nach Frankreich gebracht. Ein humanitärer Akt, sagen die einen. Ein Sicherheitsrisiko, sagen die anderen. Die Wahrheit liegt, wie so oft, dazwischen. Denn mit der Rückkehr beginnt erst die eigentliche Arbeit. Ermittlungen, Prozesse, Haftstrafen, anschließende Überwachung. Und dann, irgendwann, die Frage: Was kommt danach?
Gerade der Fall Sun wirft ein Schlaglicht auf die Kinder dieser Geschichte. Kinder, die im Kalifat geboren wurden oder dort aufgewachsen sind, ohne eigenes Zutun, ohne Wahl. Während ihre Mütter vor Gericht stehen, beginnt für sie ein Leben zwischen Jugendhilfe, psychologischer Betreuung und dem Versuch, eine Identität jenseits von Gewaltideologie zu entwickeln. Das ist keine Randnotiz, sondern ein zentrales gesellschaftliches Thema – auch wenn es im Gerichtssaal oft nur leise mitschwingt.
Die Verteidigung argumentierte mit jugendlicher Verführbarkeit, mit Abhängigkeiten, mit der Dynamik abgeschotteter Systeme. Die Richter folgten dem nur teilweise. Zehn Jahre Haft, dazu ein socio-judizieller Nachbetreuungsrahmen – die Botschaft ist klar: Der Staat zeigt Härte, aber nicht ohne Perspektive auf Kontrolle und Prävention. Milde sieht anders aus, doch blindes Wegsperren ebenfalls.
In der öffentlichen Debatte schwankt der Ton. Manche fordern lebenslange Haft, andere sprechen von Resozialisierung und Verantwortung der Gesellschaft. Beides greift zu kurz. Der Terrorismus der vergangenen Dekade hat Frankreich tief geprägt. Die Justiz reagiert darauf mit Augenmaß, aber ohne Nachsicht gegenüber ideologischer Verstrickung. Der Fall Carole Sun zeigt genau diese Linie: Verständnis für biografische Brüche, null Toleranz gegenüber Beteiligung an einer Terrororganisation.
Am Ende bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Nicht nur wegen der Taten, sondern wegen der langen Kette an Entscheidungen, die dorthin geführt haben. Radikalisierung beginnt selten mit Hass, oft mit Sinnsuche. Doch sie endet in Gewalt, Leid und – wie hier – in einem Gerichtssaal. Frankreich wird sich weiterhin mit diesen Rückkehrern auseinandersetzen müssen. Juristisch, politisch, menschlich. Einfache Antworten gibt es nicht. Aber Urteile wie dieses zeigen, wie der Staat versucht, Ordnung in ein Kapitel zu bringen, das noch lange nicht abgeschlossen ist.
Autor: Andreas M. Brucker
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