Tag & Nacht


Deutschland steht an einem geopolitischen Wendepunkt. Die einst als pazifistisch und haushaltsdiszipliniert geltende Bundesrepublik hat in den vergangenen Jahren fundamentale Tabus gebrochen: Sie rüstet massiv auf, verabschiedet sich von der „schwarzen Null“ – und erlebt zugleich einen politischen Rechtsruck, wie ihn viele für undenkbar hielten. Doch eine der folgenreichsten Veränderungen liegt weniger im Innern als im außenpolitischen Selbstverständnis: Mit Friedrich Merz an der Spitze setzt Deutschland verstärkt auf eine Führungsrolle in Europa – und auf eine weiterhin strategische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten. Eine Wette, die riskanter kaum sein könnte.

Der neue Ton aus Berlin

Seit seinem Amtsantritt präsentiert sich Kanzler Merz als außenpolitisch ambitionierter Akteur. Während sich viele europäische Regierungschefs in innenpolitischen Krisen verheddern, nutzt Merz – trotz deutlich schwankender Beliebtheitswerte – den finanziellen und wirtschaftlichen Spielraum Deutschlands, um außenpolitisch Präsenz zu zeigen. Insbesondere im Ukrainekrieg tritt er als vehementer Fürsprecher militärischer und wirtschaftlicher Hilfe auf. Damit grenzt sich Merz nicht nur von zögerlicheren europäischen Partnern ab, sondern auch von Teilen seiner eigenen politischen Basis.

Dabei fällt ein stilistischer Bruch ins Auge: Während Angela Merkel mit strategischer Zurückhaltung agierte und internationalen Medien selten Zugang gewährte, sucht Merz explizit den Dialog – auch mit der amerikanischen Presse. Seine Interviewbereitschaft gegenüber der New York Times markiert eine symbolische Neuausrichtung: Deutschland will gehört werden – auch und gerade in Washington.

Deutschland zwischen Führungsanspruch und Realitätscheck

Die neue deutsche Außenpolitik entsteht jedoch nicht aus einem sicheren Machtzentrum heraus, sondern eher im Vakuum. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gilt nach innenpolitischen Rückschlägen als geschwächt, Großbritannien kämpft nach dem Brexit mit einem Prestigeverlust auf internationalem Parkett. So ergibt sich für Deutschland eine Art „Führungsrolle durch Ausscheiden der Konkurrenz“.



Doch diese Rolle bleibt fragil. Einerseits erlaubt die deutsche Finanzkraft weiterhin großzügige Hilfen an die Ukraine. Andererseits ist der innenpolitische Rückhalt dafür brüchig. Die rechtspopulistische AfD ist laut aktuellen Umfragen zweitstärkste Kraft im Bundestag und kritisiert nicht nur die Waffenlieferungen, sondern stellt Deutschlands gesamte außenpolitische Ausrichtung infrage.

Gleichzeitig setzt Merz in der Ukrainefrage weiterhin auf die Führungsrolle der USA – trotz wachsender Ungewissheit über den zukünftigen außenpolitischen Kurs Washingtons. Der Schatten Donald Trumps liegt schwer auf jeder strategischen Entscheidung Europas. Merz bleibt dennoch optimistisch: Er glaubt an eine Europa-affine Grundhaltung in den politischen USA – und an die Bereitschaft, sich im Zweifel wieder klar gegen Russland zu positionieren.

Eine Strategie mit Verfallsdatum?

Hinter den Kulissen aber wächst die Nervosität. Wie aus Gesprächen mit Regierungsberatern hervorgeht, erkennen viele, dass das bisherige „Whatever it takes“-Narrativ zur Ukraine zunehmend an Glaubwürdigkeit verliert. Das geopolitische Zeitfenster, in dem sich der Westen einig zeigt, könnte sich bald schließen – insbesondere, wenn ein US-Präsident Trump seine Annäherung an Russland forciert.

Die diplomatischen Bemühungen folgen inzwischen einem zermürbenden Zyklus: Europa, die Ukraine und die USA finden einen Kompromiss; Moskau lehnt ab; Washington verändert daraufhin seine Linie zugunsten Russlands. Anschließend versuchen europäische Spitzenpolitiker wie Merz und Macron, Trump erneut von einer pro-ukrainischen Position zu überzeugen – und das Spiel beginnt von vorn. Diese „elliptische Umlaufbahn“, wie das Spiel in Washington beschrieben wird, bindet politische Energie – und entzieht der Ukraine im schlimmsten Fall die notwendige Unterstützung.

Merz setzt darauf, Trump in diese strategische Debatte einzubinden – und ihm zu vermitteln, dass eine pro-ukrainische Haltung auch amerikanischen Interessen diene. Es ist eine Haltung, die politisch rational erscheint, aber wenig Raum für alternative Szenarien lässt. Kritiker sprechen von einem geopolitischen Glücksspiel: Sollte Trump sich endgültig von Europa abwenden, droht eine außenpolitische Isolation der EU, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellos wäre.

Ein Kanzler aus der Bonner Republik?

Merz selbst wirkt auf viele Beobachter wie ein Anachronismus – ein Vertreter des wirtschaftsliberalen, transatlantisch geprägten Deutschlands der 1990er-Jahre. Seine Bewunderung für die USA, seine wirtschaftspolitische Grundüberzeugung und seine direkte, eher sachbezogene Art im Umgang mit der Presse wirken für viele ungewohnt – aber auch berechenbar. Gerade in einer Ära zunehmender Polarisierung und politischer Inszenierung mag das ein Vorteil sein.

Doch der Kanzler agiert in einer Welt, die nicht mehr den Bedingungen der Bonner Republik folgt. Die geopolitische Bipolarität ist zurück, aber in veränderter Form. China, Russland und ein möglicherweise isolationistisches Amerika stellen Deutschland und Europa vor neue strategische Grundsatzentscheidungen. Die alte Gewissheit, dass Amerika im Ernstfall zum Schutz Europas bereitsteht, wird zunehmend infrage gestellt – nicht zuletzt von Amerika selbst.

Gleichzeitig ist Deutschland durch seine ökonomische Struktur besonders exponiert: Exportabhängig, energiehungrig und technologisch eng verflochten mit den USA, hängt das Land stärker als viele andere EU-Mitglieder von transatlantischer Stabilität ab. Das macht die Wette auf Amerika verständlich – aber auch riskant.

Ob Friedrich Merz mit seinem Kurs Erfolg haben wird, ist offen. Vieles hängt davon ab, ob es ihm gelingt, die deutsche Öffentlichkeit langfristig hinter seine außenpolitische Agenda zu bringen – und ob Amerika bereit ist, diese neue deutsche Führungsbereitschaft auch unter schwierigen Umständen zu stützen. Sicher ist nur: Der Ausgang dieser Wette wird nicht nur über die Zukunft der Ukraine entscheiden, sondern auch über Deutschlands – und Europas – Rolle im 21. Jahrhundert.


WEITERE NACHRICHTEN

Europäische Staats- und Regierungschefs einigten sich darauf, die Ukraine für zwei Jahre mit einem Kredit in Höhe von 90 Milliarden Euro zu unterstützen – jedoch ohne auf eingefrorene russische Vermögenswerte zur Absicherung der Mittel zurückzugreifen, wie es einige Politiker gefordert hatten.

Die USA kündigten Waffenverkäufe im Wert von über 11 Milliarden US-Dollar an Taiwan an, das sich auf eine lange befürchtete Invasion durch China vorbereitet.

Die Regierung Trump erklärte, sie werde Bundesmittel für Krankenhäuser in den USA streichen, die geschlechtsbezogene Behandlungen für Minderjährige anbieten.

In Sydney versammelte sich die jüdische Gemeinde zur Trauerfeier für das jüngste Opfer des Angriffs am Bondi Beach: die zehnjährige Matilda.

Nigeria ließ Bleirecycling-Fabriken schließen, die US-Autohersteller mit Batteriematerialien versorgen, und begann mit Tests von Boden, Luft und Anwohnern auf Bleivergiftung.

Laut Angaben der Vereinten Nationen töteten paramilitärische Einheiten im Sudan bei einem Angriff im April über 1.000 Menschen – einige davon durch summarische Hinrichtungen – in einem von Hunger betroffenen Lager für Binnenvertriebene.

Autor: P. Tiko

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!