Tag & Nacht


Der Süden Frankreichs kennt das Wort „épisode cévenol“ seit Generationen. Es klingt beinahe harmlos, nach regionaler Eigenheit, nach einem meteorologischen Fachausdruck, den man zur Kenntnis nimmt und dann zur Tagesordnung übergeht. Doch an diesem Montag, dem 22. Dezember, zeigte sich erneut, was sich hinter diesem Begriff verbirgt: Regen, der nicht fällt, sondern niedergeht, Wasser, das nicht fließt, sondern sich aufbäumt, und Landschaften, die sich innerhalb weniger Stunden verwandeln.

Besonders hart traf es das Département Hérault. Straßen verschwanden unter braunen Wassermassen, Gebäude standen plötzlich im Erdgeschoss knöcheltief im Nassen, und vielerorts herrschte jene angespannte Stille, die sich einstellt, wenn alle wissen, dass Improvisation gefragt ist. Ein ganz normaler Montag war das nicht.

Im benachbarten Gard zeigte sich die Gewalt der Natur an vertrauten Orten: an Brücken. Rund dreißig von ihnen wurden von den Wassern überflutet. Wo sonst der Gardon gemächlich unter steinernen Bögen dahinzieht, war plötzlich kein Ufer mehr zu erkennen. Der Gardon hatte sich ausgebreitet, breitgemacht, die Verkehrswege verschluckt. Autofahrer standen ratlos vor Absperrungen oder vor dem, was davon noch übrig war. Umkehren, warten, hoffen – mehr blieb nicht.

„Lieber vorsichtig“, sagte ein Mann, der sein Auto am Rand abstellte. Man weiß nie, was das Wasser mit sich führt. Ein Baumstamm, Geröll, vielleicht Schlimmeres. Die Erinnerung an das vergangene Jahr schwang mit, als an derselben Stelle ein Mann und zwei Kinder von den Fluten mitgerissen wurden. Solche Gedanken sitzen tief. Sie kommen ungefragt zurück, sobald das Wasser steigt.



Die Regenfälle der Nacht hatten die Flüsse rasend schnell anschwellen lassen. Binnen Stunden traten sie über die Ufer, suchten sich neue Wege, drangen in Keller, Lagerräume und Gasträume ein. Im Norden des Hérault stand ein Restaurant unter Wasser. Gérard Bianco, der Betreiber der „Remparts“, stand zwischen feuchten Wänden und leergeräumten Regalen. Immerhin, sagte er, habe man noch rechtzeitig einen Großteil der Waren in Sicherheit bringen können. Er klang erleichtert, aber nicht überrascht. Wer hier lebt, kennt diese Szenen. Sie kommen wieder. Immer wieder.

Während im Tiefland das Wasser regierte, zeigte sich weiter nördlich ein anderes Gesicht des Unwetters. Im Aveyron fiel Schnee – nicht zaghaft, sondern dicht und anhaltend. Der Kontrast hätte größer kaum sein können. Regenfluten hier, winterliche Stille dort. Auf dem Viaduc de Millau legte sich eine weiße Schicht über Asphalt und Stahl, als wolle der Winter demonstrativ seine Präsenz markieren. Die ikonische Brücke, sonst ein Symbol technischer Leichtigkeit, wirkte plötzlich schwer, geerdet, beinahe verletzlich.

Der Verkehr kam ins Stocken. Fahrzeuge tasteten sich vorsichtig voran, jeder Meter ein kleines Risiko. Ein falscher Lenkimpuls, ein Moment der Unachtsamkeit – und schon drohte der Ausflug in den Straßengraben. Die Behörden reagierten, hielten Warnstufen aufrecht, mahnten zur Zurückhaltung. In Aveyron und im Tarn blieb die Warnlage auf Orange. Keine Panik, aber auch kein Leichtsinn.

Solche Wetterlagen folgen in den Cevennen und ihren Ausläufern einer eigenen Logik. Warme, feuchte Mittelmeerluft trifft auf kältere Luftmassen, staut sich an den Gebirgszügen, entlädt sich in sintflutartigen Regenfällen. Meteorologisch gut erklärbar, praktisch jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung. Die Böden sind schnell gesättigt, die Flüsse reagieren ohne Verzögerung, und was gestern noch harmlos wirkte, wird über Nacht zur Gefahr.

Für die Menschen vor Ort ist das keine abstrakte Theorie. Es sind nasse Schuhe am Morgen, gesperrte Schulwege, Umleitungen, die den Arbeitsweg verdoppeln. Es sind Gespräche am Straßenrand, ein kurzer Austausch von Blicken, dieses stumme Einverständnis: Wir sitzen im selben Boot – oder besser gesagt, im selben Wasser.

Die Einsatzkräfte arbeiteten im Hintergrund unermüdlich. Straßen sichern, Brücken kontrollieren, Gefahrenstellen markieren. Vieles davon bleibt unsichtbar, solange nichts Schlimmeres passiert. Und genau darauf kommt es an. Prävention, Erfahrung, Routine. All das entscheidet darüber, ob ein Unwetter zur Katastrophe wird oder „nur“ zum Ausnahmezustand.

Der Süden Frankreichs hat diesen Montag einmal mehr gespürt, wie schmal der Grat zwischen Alltag und Ausnahmelage ist. Regen und Schnee, Wasser und Eis – zwei Seiten derselben Medaille. Die kommenden Stunden bleiben kritisch, die Nächte kurz. Doch mit jeder überstandenen Episode wächst auch das Wissen, die Gelassenheit, vielleicht sogar ein leiser Respekt vor einer Natur, die sich nicht zähmen lässt.

Man kann ihr nur begegnen, aufmerksam, vorbereitet und mit dem festen Willen, rechtzeitig umzukehren, wenn die Straße endet und das Wasser beginnt.

Von Andreas M. Brucker

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