Wer dieser Tage entlang der windigen Küste des Ärmelkanals unterwegs ist, spürt schnell, dass sich etwas verschoben hat. Nicht in den großen politischen Debatten von Paris oder London, sondern draußen, zwischen Industriehäfen, Dünen und provisorischen Zeltlagern. Die Beobachtungen des Haut-Commissariat des Nations unies pour les réfugiés, kurz HCR, zeichnen ein Bild, das selbst erfahrene Helferinnen und Helfer innehalten lässt. In den Transitzonen rund um Calais und Dunkerque tauchen zunehmend Menschen auf, die bislang eher die Ausnahme waren. Frauen, oft allein. Frauen mit kleinen Kindern. Ganze Familien.
Noch vor wenigen Jahren dominierten junge Männer das Bild der Migration an dieser Küste. Heute stehen Kinderwagen neben Zelten, improvisierte Kochstellen teilen sich den Platz mit Stofftieren, die der Wind durch den Sand treibt. Das ist keine Randnotiz, sondern ein deutlicher Bruch mit der bisherigen Dynamik. Und er verschärft eine ohnehin fragile humanitäre Lage.
Die Teams des HCR, die regelmäßig in den Lagern unterwegs sind, berichten von steigendem Schutzbedarf. Frauen erzählen von Gewalt auf der Flucht, von Nächten ohne Schlaf, von der ständigen Angst, erneut Opfer zu werden. Kinder zeigen Anzeichen tiefer Erschöpfung, manche wirken älter, als sie sind. Postmigratorische Traumata, fehlender Zugang zu medizinischer Versorgung, kaum stabile Rückzugsräume – all das verdichtet sich zu einem Alltag, der wenig mit dem Wort Sicherheit zu tun hat.
Calais trägt diese Geschichte seit Jahren mit sich. Seit der Räumung des sogenannten Jungle im Jahr 2016 ist das große Lager verschwunden, nicht jedoch die Menschen. Sie kamen wieder, verteilt, unsichtbarer vielleicht, aber nicht weniger prekär. Kleine Camps entstanden an Straßenrändern, in Wäldchen, hinter Zäunen. Der Staat griff ein, räumte, ordnete neu. Hilfsorganisationen versuchten zu lindern, was politisch ungelöst blieb. Jetzt, fast ein Jahrzehnt später, wirkt diese Situation weniger wie ein Provisorium, sondern wie ein Dauerzustand.
Neu ist jedoch, wer hier ausharrt. Familien mit Kindern brauchen mehr als eine Decke und eine warme Mahlzeit. Sie brauchen medizinische Betreuung, psychologische Unterstützung, Bildung, Schutzräume. Genau daran mangelt es. Der Zugang zu regulären Unterkünften bleibt begrenzt, die Asylverfahren erscheinen vielen undurchsichtig, manchmal unerreichbar. Wer auf eine sichere Zukunft hofft, blickt weiterhin über das Wasser Richtung Großbritannien.
Die gefährlichen Überfahrten über den Ärmelkanal gehören längst zum Alltag der Küstenwache. Schlauchboote, überladen, schlecht ausgerüstet, brechen in der Dunkelheit auf. Dass darunter immer häufiger Frauen und Kinder sind, verleiht diesen Bildern eine neue Dringlichkeit. Es ist ein stilles Eingeständnis des Mangels an legalen, sicheren Wegen. Wenn nichts offensteht, bleibt das Risiko.
Politisch bewegt sich das Thema zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite steht die humanitäre Verpflichtung, Menschen in Not zu schützen. Auf der anderen Seite der Druck, Migration zu kontrollieren, Grenzen zu sichern, Abschreckung zu signalisieren. Frankreich verschärft Kontrollen, koordiniert sich mit Großbritannien, investiert in Überwachung. Gleichzeitig betont die Regierung den Zugang zum Asylsystem. Beides zusammen ergibt eine Spannung, die vor Ort täglich spürbar ist.
Hilfsorganisationen sprechen von einer Lücke zwischen Anspruch und Realität. Besonders für Frauen und Minderjährige fehlen spezialisierte Angebote. Sichere Räume, in denen niemand Angst haben muss. Strukturen, die mehr sind als kurzfristige Notlösungen. Wer einmal länger mit Helfer:innen spricht, hört Sätze wie: So geht das nicht ewig weiter. Und: Das System knirscht.
Dabei reicht der Blick längst über die Region hinaus. Was sich in Calais und Dünkirchen zeigt, ist Teil einer europäischen Herausforderung. Migration lässt sich nicht lokal verwalten, wenn ihre Ursachen global sind. Kriege, politische Verfolgung, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit treiben Menschen weiter. Wer hier ankommt, trägt diese Geschichten im Gepäck, auch wenn sie im politischen Diskurs oft untergehen.
Einige Kommunen versuchen gegenzusteuern, experimentieren mit besseren Unterbringungsmodellen, stärkerer Zusammenarbeit mit sozialen Diensten. Doch ohne übergeordnete Strategie bleiben solche Ansätze fragil. Die Forderung nach legalen Zugangswegen, nach fairer europäischer Verteilung, nach nachhaltiger Integration klingt vertraut. Neu ist, wie dringend sie geworden ist.
Denn die veränderten Profile der Migrantinnen und Migranten verändern auch die moralische Frage. Kinder im Camp lassen sich schwerer ignorieren als Zahlen in einer Statistik. Frauen, die nachts nicht schlafen, weil sie sich fürchten, fordern andere Antworten als Schlagworte. Das macht die Debatte unbequemer, aber ehrlicher.
Vielleicht liegt genau darin eine Chance. Die Situation an der Kanalküste zeigt, dass Migration kein abstraktes Phänomen ist, sondern ein menschliches. Und dass Lösungen, die nur auf Kontrolle setzen, an ihre Grenzen stoßen. Wer zuhört, wer hinschaut, erkennt schnell, dass kurzfristige Maßnahmen nicht reichen.
Der HCR spricht von einer Warnung. Vor Ort klingt das weniger nach Alarmismus als nach nüchterner Bestandsaufnahme. Die Realität hat sich verändert. Jetzt müsste die Politik folgen.
Autor: C.H.
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