Der Anruf ging am frühen Nachmittag ein, kurz nach dem Festessen, in jener trügerischen Ruhe, die der 25. Dezember gern vorgaukelt. Gegen 13.30 Uhr alarmierte ein 36-jähriger Mann die Rettungskräfte in Lille. Seine Lebensgefährtin, 34 Jahre alt, liege reglos in der gemeinsamen Wohnung, sagte er, Herzstillstand. Wenig später war klar: Diese Erklärung stimmte nicht.
Als Sanitäter und Polizei die Wohnung betraten, fanden sie eine tote Frau. Auf ihrem Körper: Hämatome. In der Wohnung: Spuren von Gewalt. Möbel verrückt, Gegenstände beschädigt, Zeichen eines eskalierten Konflikts. Der Mann wurde noch vor Ort verhaftet und in Polizeigewahrsam genommen. Der Verdacht: ein mögliches Femizid.
Bekannt wurde der Fall durch eine Meldung von franceinfo unter Berufung auf eine Polizeiquelle, später bestätigt durch die Agence France-Presse. Die Redaktion von Radio France, zu der franceinfo gehört, sprach von deutlichen Hinweisen auf Gewalteinwirkung. Die Ermittlungen laufen, doch die ersten Befunde zeichnen ein düsteres Bild.
Der Mann, 36 Jahre alt, erklärte während seiner Vernehmung, der Abend sei „stark alkoholisiert“ verlaufen. Eine Formulierung, die in zahllosen Ermittlungsakten auftaucht, wenn aus Streit Gewalt wird. Der Mann ist den Behörden bekannt, allerdings nicht wegen Gewaltdelikten, sondern aufgrund eines Verkehrsvergehens. Ein Detail, das weder entlastet noch belastet, aber zeigt, wie alltäglich die Beteiligten auf den ersten Blick wirken.
Die Staatsanwaltschaft, konkret das parquet de Lille, hielt sich zunächst bedeckt. Anfragen blieben unbeantwortet. Das ist in laufenden Ermittlungen üblich, wirkt in solchen Momenten jedoch wie ein zusätzliches Schweigen über einem ohnehin sprachlos machenden Geschehen. Was genau in den Stunden vor dem Tod der Frau geschah, bleibt Gegenstand kriminaltechnischer Untersuchungen und rechtsmedizinischer Gutachten.
Der Begriff Femizid ist längst Teil des öffentlichen Wortschatzes geworden, und doch klingt er jedes Mal wie ein Schlag. Gemeint ist die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist, meist im Kontext einer bestehenden oder ehemaligen Partnerschaft. In Frankreich sterben nach aktuellen Zahlen nahezu täglich Frauen durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners, oder sie entgehen nur knapp einem solchen Versuch. Die Statistik ist kein abstraktes Konstrukt, sie ist eine Abfolge zerstörter Leben, hinter jeder Zahl ein Name, eine Geschichte, ein Umfeld, das zurückbleibt.
Die neuesten Daten der Miprof, veröffentlicht im November, sprechen von einem Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Drei Frauen pro Tag, Opfer eines vollendeten oder versuchten partnerschaftlichen Femizids. Diese Zahl steht wie ein Menetekel über jedem einzelnen Fall, auch über dem von Lille. Sie macht deutlich, dass es sich nicht um einen tragischen Ausrutscher handelt, sondern um ein strukturelles Problem.
In der öffentlichen Debatte wird häufig gefragt, ob sich solche Taten verhindern lassen. Die Frage klingt berechtigt, aber sie greift oft zu kurz. Prävention bedeutet mehr als Notrufnummern und Strafverschärfungen, so notwendig sie sind. Sie beginnt in der Wahrnehmung von Warnsignalen, im Ernstnehmen von Gewalt, im Aufbrechen jener privaten Räume, in denen Konflikte als „familiäre Angelegenheiten“ abgetan werden. Genau hier setzen Organisationen wie die Fondation des femmes an, die jüngst erneut die Einrichtung einer nationalen Beobachtungsstelle für Femizide forderte. Ein Ort, der sammelt, analysiert, sichtbar macht.
Der Fall von Lille zeigt einmal mehr, wie eng Alkohol, Gewalt und Beziehungskonflikte miteinander verknüpft sein können. Alkohol erklärt nichts, er entschuldigt nichts, aber er senkt Hemmschwellen, verstärkt Aggressionen, beschleunigt Eskalationen. Viele Ermittler berichten aus Erfahrung, dass er in einem erschreckend hohen Anteil solcher Fälle eine Rolle spielt. Das Muster wiederholt sich, beinahe mechanisch: Streit, Enthemmung, Gewalt, Tod.
Und dann bleibt die Frage nach der Verantwortung der Gesellschaft. Was passiert nach der Meldung, nach dem kurzen Aufblitzen in den Nachrichten? Zu oft versinken solche Fälle im Strom der Aktualität. Weihnachten, Neujahr, ein paar Schlagzeilen, dann der nächste Fall. Das Grauen nutzt die Routine.
In Lille werden nun Spuren gesichert, Nachbarn befragt, Handydaten ausgewertet. Ein Gerichtsmediziner wird klären, woran die Frau starb, welche Verletzungen todesursächlich waren. Für die Ermittler ist es ein Fall unter vielen, für das Umfeld der Toten der endgültige Bruch eines Lebens. Für die Öffentlichkeit ein weiterer Beleg dafür, dass die Gewalt gegen Frauen keine Randerscheinung ist.
Man hört manchmal den Satz, solche Taten seien unvorstellbar. Das stimmt längst nicht mehr. Sie sind vorstellbar, weil sie immer wieder geschehen. Gerade deshalb verlangt jeder einzelne Fall Aufmerksamkeit, Präzision, Konsequenz. Nicht aus Sensationslust, sondern aus Verantwortung. Denn hinter der nüchternen Meldung aus Lille steht eine Frau, 34 Jahre alt, deren Leben an einem Feiertag endete, an dem andere Geschenke auspackten.
Autor: C.H.
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