Ein Auto fährt durch die Bourgogne, Meter um Meter, Straße um Straße. Keine Werbung auf dem Dach, kein multinationaler Konzern im Hintergrund, sondern ein Département, das beschlossen hat, seine Wege selbst zu kennen. In der Côte-d’Or ist aus dieser Entscheidung ein Projekt entstanden, das weit über die Region hinaus Aufmerksamkeit verdient. Côte-d’Or Street heißt das Programm, und es steht für einen selbstbewussten Umgang mit Daten, Bildern und digitaler Souveränität – ein öffentlicher Gegenentwurf zu Google Street View.
Vorgestellt wurde das Projekt in Dijon, im Dezember 2025. Kein Zufall, sondern ein politisches Signal. Die Straßen des Départements, ob breit oder schmal, ob asphaltiert oder ländlich, liegen nun vollständig als hochauflösende 360-Grad-Bilder vor, frei zugänglich im Netz. Wer durchklicken möchte, kann das tun. Wer analysieren will, ebenfalls. Und wer sich fragt, wem diese Bilder gehören, bekommt eine ungewöhnlich klare Antwort: der öffentlichen Hand.
Die Dimension des Vorhabens wirkt zunächst abstrakt, entfaltet aber schnell Gewicht. 8.489 Kilometer Straßen- und Radwegenetz wurden erfasst, alle fünf Meter ein Bild, fast zwei Millionen Panoramaaufnahmen insgesamt. Die Kameras arbeiteten mit einer Präzision, die im Zentimeterbereich verortet, was früher nur grob kartiert wurde. Bordsteine, Markierungen, Schilder, Übergänge – alles liegt sichtbar vor. Nicht als Momentaufnahme für Neugierige, sondern als Arbeitsgrundlage für Verwaltung, Planung und Instandhaltung.
Dass die Côte-d’Or damit als erstes Département Frankreichs sein gesamtes öffentliches Wegenetz in dieser Form digitalisiert hat, ist kein beiläufiger Rekord. Es ist Ausdruck eines politischen Willens, der in den letzten Jahren an Schärfe gewonnen hat. Digitale Souveränität klingt oft wie ein Schlagwort aus Strategiepapieren, hier bekommt sie Asphalt unter die Füße. Die Daten liegen auf Servern in Frankreich, sie gehören der Collectivité, sie unterliegen französischem Recht. Keine Weiterverwertung durch Dritte, kein unklarer Datenabfluss über Kontinente hinweg. Für viele Kommunen, die bislang auf private Plattformen angewiesen waren, wirkt das wie ein Befreiungsschlag.
Natürlich spielt Technik eine zentrale Rolle. Ohne automatisierte Verfahren ließe sich eine solche Datenmenge kaum beherrschen. Künstliche Intelligenz übernimmt Aufgaben, die früher mühsam per Hand erledigt wurden. Gesichter verschwinden hinter Weichzeichnern, Nummernschilder ebenso, und zwar zuverlässig. Datenschutz ist hier kein nachträglicher Filter, sondern Teil des Systems. Gleichzeitig erkennt die Software Straßenschäden, Beschilderung, bauliche Elemente. Wer heute einen Riss im Belag sucht, muss nicht mehr hinausfahren, sondern klickt sich heran. Das spart Zeit, Geld und Nerven – und ja, das fühlt sich für die Praktiker ziemlich gut an.
Der eigentliche Charme von Côte-d’Or Street liegt jedoch in seiner Offenheit. Das Projekt erschöpft sich nicht in der Rolle eines digitalen Zwillings der Straßen. Es öffnet Perspektiven. Planer sehen, wie sich Radwege in den Raum einfügen. Rettungsdienste verschaffen sich vorab ein Bild kritischer Zufahrten. Touristische Akteure laden zur virtuellen Erkundung ein, lange bevor jemand die Koffer packt. Bürgerinnen und Bürger bekommen Einblick in den öffentlichen Raum, der sonst nur aus der Windschutzscheibe wahrgenommen wird. Der Staat zeigt sich, im Wortsinn.
Dabei schwingt immer auch ein leiser Seitenhieb mit. Denn während Google Street View seit Jahren Debatten über Datenhoheit, Privatsphäre und wirtschaftliche Abhängigkeiten auslöst, demonstriert ein Département, dass es anders geht. Kleiner, vielleicht weniger glänzend, aber kontrollierbar. Wer einmal durch die digitalen Straßen der Côte-d’Or navigiert, merkt schnell: Hier geht es nicht um Effekte, sondern um Substanz.
In diesen Kontext passt auch der Blick auf überregionale Initiativen. Projekte wie Panoramax zeigen, dass der Wunsch nach offenen, gemeinschaftlich getragenen Alternativen wächst. Getragen von Akteuren wie dem Institut national de l’information géographique et forestière und OpenStreetMap France entsteht ein Ökosystem, das nicht auf Monopole setzt, sondern auf Zusammenarbeit. Côte-d’Or Street fügt sich hier ein, ohne sich zu verlieren. Eigenständig, aber anschlussfähig.
Die kommenden Jahre werden entscheiden, ob solche Modelle Schule machen. Interoperabilität, langfristige Finanzierung, technischer Fortschritt – all das verlangt Aufmerksamkeit. Doch schon jetzt steht fest: Die Côte-d’Or hat gezeigt, dass digitale Infrastruktur kein exklusives Spielfeld globaler Konzerne bleiben muss. Sie hat ihre Straßen vermessen und dabei ein Stück digitale Selbstbestimmung gewonnen. Man könnte sagen: Hier weiß der Staat wieder, wo er langfährt.
Und irgendwo zwischen Dijon und den kleinen Landstraßen der Bourgogne klickt sich jemand durch ein Panorama, staunt kurz und denkt: Ach, das geht also auch öffentlich. Genau das ist der Punkt.
Von Daniel Ivers
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