Im Chablais brodelt es. Der Bau der geplanten Autobahn A412 – auch „Autoroute du Chablais“ genannt – sorgt in der Haute-Savoie für heftige Proteste. Auf den ersten Blick klingt das Vorhaben nach Infrastrukturfortschritt: Eine neue Verbindung zwischen Machilly und Thonon-les-Bains, 16,5 Kilometer lang, soll Staus auflösen und die Region besser anbinden. Doch der Preis dafür ist hoch – zu hoch, sagen viele.
Denn die Trasse würde nicht nur wertvolles Agrarland vernichten, sondern auch empfindliche Ökosysteme zerstören. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der der Schutz von Klima, Biodiversität und Lebensqualität in ländlichen Regionen eigentlich zur obersten Priorität erklärt wurde.
50 Jahre alter Plan – plötzlich wieder aktuell
Der Gedanke an eine Autobahn im Chablais ist kein neuer. Schon in den 1970ern wurde darüber nachgedacht. Doch der Plan wurde 1997 vom französischen Staatsrat kassiert – Kosten und Nutzen stimmten nicht. Zwei Jahrzehnte später, im Jahr 2019, wurde das Projekt neu aufgelegt und wieder für „öffentlich nützlich“ erklärt. 2024 folgte der große Schritt: Ein 55-Jahre laufender Konzessionsvertrag mit dem Baukonzern Amédéa (eine Tochterfirma von Eiffage) wurde unterzeichnet. Die Bauarbeiten sollen 2026 starten, die Eröffnung ist für 2029 angesetzt.
Doch so weit darf es nicht kommen – wenn es nach den Gegnern geht.
Traktoren, Fahrräder, Transparente
Am 10. Mai 2025 rollten Traktoren durch Perrignier. Rund 500 Menschen – Landwirte, Anwohner, Umweltaktivisten – hatten sich versammelt, um gegen das Projekt zu demonstrieren. Veranstaltet wurde der Protest von einem breiten Bündnis, darunter die Acpat, Extinction Rebellion und die Confédération paysanne 74. Auf Transparenten wurde der Schutz des Reblochon-Käses genauso gefordert wie das Ende großflächiger Versiegelung und Landschaftszerschneidung.
„Es geht nicht nur um Asphalt – es geht um unsere Zukunft“, war auf einem Plakat zu lesen.
Was auf dem Spiel steht
Die Argumente der Gegner sind vielfältig – und konkret. Ganze 150 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche würden der A412 geopfert. Darunter Flächen, die zur Herstellung von AOP-zertifiziertem Reblochon-Käse genutzt werden. Noch brisanter: Auch mehrere Feuchtgebiete – Rückzugsorte für bedrohte Arten wie die Gelbbauchunken – würden verschwinden.
Laut France Nature Environnement Haute-Savoie drohen durch die neue Trasse zudem 14 Prozent mehr CO₂-Ausstoß im Chablais sowie eine signifikante Verschlechterung der Luftqualität. Für die Organisation ist klar: Statt noch mehr Beton müsse der Ausbau des Léman Express – ein überlasteter Nahverkehrszug – Priorität bekommen.
„Desenclavement“ oder Zerstörung?
Die Befürworter – darunter viele Lokalpolitiker und das Verkehrsministerium – betonen dagegen die wirtschaftliche Bedeutung des Projekts. Thonon-les-Bains sei verkehrstechnisch abgeschnitten, der Tourismus leide, die Pendler ebenso. Die neue Autobahn sei ein „Werkzeug zur Entwicklung“.
Dass dabei „nur“ fünf Prozent der regionalen Agrarflächen betroffen seien und man Maßnahmen zum Umweltschutz plane, wird als Entschärfung präsentiert. Doch reicht das aus?
Hoffnung auf ein Stoppsignal
Viele Gegner der A412 orientieren sich am erfolgreichen Widerstand gegen die A69 zwischen Toulouse und Castres, bei dem ein Baustopp erwirkt wurde. Auch im Chablais sollen nun juristische Schritte geprüft werden. Parallel geht der Protest weiter – lokal, sichtbar, laut. Es geht um mehr als eine Straße – es geht um ein Modell, wie man in Zeiten des Klimawandels Regionen entwickelt.
Wie weit darf man für den Fortschritt gehen – und was ist überhaupt Fortschritt?
Am Ende steht eine grundsätzliche Frage: Wollen wir wirklich neue Autobahnen bauen, während Europa unter Hitzewellen, Artensterben und ländlicher Verarmung leidet? Oder brauchen wir nicht vielmehr andere Wege – wortwörtlich und im übertragenen Sinn?
Von M.A.B.
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