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Vor 70 Jahren begann der Algerienkrieg, ein achtjähriger blutiger Konflikt, der bis heute Schatten auf das Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien wirft. Es war ein Krieg, der von Grausamkeit, Unrecht und Widerstand geprägt war, aber auch von Mut und einem schmerzhaften Kampf für die Unabhängigkeit. Der Konflikt endete offiziell 1962 mit Algeriens Unabhängigkeit, aber die Narben, die er hinterließ, sind bis heute spürbar – sowohl auf persönlicher als auch auf politischer Ebene. Dieses Wochenende hat der französische Präsident Emmanuel Macron einen wichtigen, längst überfälligen Schritt gewagt: Er räumte die Rolle Frankreichs bei der Ermordung eines zentralen algerischen Widerstandsführers, Larbi Ben M’hidi, ein und gab damit den Forderungen nach Wahrheit und Gerechtigkeit eine neue Bedeutung.

Der Algerienkrieg und die Geburtsstunde eines modernen Widerstands

Der Algerienkrieg begann am 1. November 1954, als die algerische Nationalbefreiungsfront (FLN) mit einer Serie koordinierter Angriffe gegen die französische Kolonialmacht begann. Ziel der FLN war es, die Unabhängigkeit Algeriens zu erkämpfen und die französische Herrschaft zu beenden, die Algerien seit 1830 als Kolonie unterdrückt hatte. Die FLN, die zu diesem Zeitpunkt nur aus wenigen Hundert Kämpfern bestand, setzte auf eine Kombination aus militärischem Widerstand und psychologischer Kriegsführung, um die koloniale Ordnung zu destabilisieren.

Einer der prominentesten und charismatischsten Anführer dieser Bewegung war Larbi Ben M’hidi. Als eine Art „revolutionärer Held“ gilt er bis heute als Symbol für den algerischen Widerstand. Mit seiner Integrität, seinem Mut und seiner unverblümten Art erlangte er Respekt – sogar bei seinen Feinden. Bekannt ist sein berühmter Satz, der sein kompromissloses Engagement für die Freiheit widerspiegelt: „Gebt uns eure Panzer, und wir geben euch unsere Körbe voller Blumen.“ Doch seine Festnahme 1957 in Algier und die anschließende Ermordung durch französische Fallschirmjäger trugen zur Eskalation der Gewalt bei und hinterließen eine offene Wunde im kollektiven Gedächtnis Algeriens.

Die Bedeutung von Larbi Ben M’hidi für Algerien

Ben M’hidi spielte eine zentrale Rolle im Widerstand gegen die französische Kolonialherrschaft. Als Mitglied des Führungskommandos der FLN war er maßgeblich für die Organisation des bewaffneten Kampfes verantwortlich und wurde schnell zu einem der bekanntesten Gesichter des Aufstands. Er sah den Kampf als Akt der Selbstbestimmung und Würde für das algerische Volk, das fast 130 Jahre lang unterdrückt, entrechtet und ausgebeutet wurde. Ben M’hidi wird auch als „Märtyrer des algerischen Befreiungskampfes“ bezeichnet – ein Symbol, das den Unbeugsamkeit des algerischen Widerstands verkörpert.

Als die französische Armee Ben M’hidi im Februar 1957 festnahm, begann für ihn eine Leidensgeschichte, die viele Algerier bis heute nicht vergessen haben. Unter der Leitung von General Jacques Massu wurden brutale Verhörmethoden angewandt – Folter war in der Praxis der französischen Fallschirmjäger nicht ungewöhnlich. In den Jahrzehnten danach bestritt Frankreich offiziell seine Ermordung und behauptete, er habe Selbstmord begangen. Doch die Wahrheit kam schrittweise ans Licht: Ben M’hidi wurde gefoltert und auf Befehl eines französischen Offiziers gehängt. Seine Ermordung gilt bis heute als Symbol für das Unrecht und die Gewalt, die Algerier im Namen der Kolonialmacht erleiden mussten.

Macron und die späte Wahrheit

Die historische Anerkennung von Verbrechen im Kolonialkontext war in Frankreich immer ein sensibles Thema. Die französische Gesellschaft selbst war im Algerienkrieg gespalten – viele Bürger lehnten die koloniale Gewalt ab, während andere die algerische Unabhängigkeit als Bedrohung sahen. Jahrzehntelang war es in Frankreich tabu, über die Gräueltaten der Armee in Algerien offen zu sprechen. Noch 2018 sah sich Emmanuel Macron als erster französischer Präsident in der Lage, die Verantwortung Frankreichs für das, was er als „System der Folter“ bezeichnete, zu benennen. Und nun, dieses Wochenende, der bislang wohl weitreichendste Schritt: Macron erkannte offiziell an, dass Ben M’hidi nicht durch Selbstmord starb, sondern auf Befehl der französischen Streitkräfte ermordet wurde.

Für viele Algerier – besonders für die Angehörigen von Ben M’hidi – ist diese Geste ein bedeutendes Zeichen, aber längst nicht ausreichend. Es ist eine Anerkennung, aber es bleibt der bittere Nachgeschmack, dass sie Jahrzehnte auf sich warten ließ. Und was bedeutet diese späte Anerkennung wirklich? Dass eine koloniale Vergangenheit nicht einfach in Archiven verstauben kann, sondern durch Gerechtigkeit und Erinnerung aufgearbeitet werden muss.

Ein gespaltenes Erbe

Das Verhältnis zwischen Algerien und Frankreich ist bis heute von Misstrauen und angespannten politischen Beziehungen geprägt. Die algerische Regierung fordert seit Jahren eine umfassende Entschuldigung und Entschädigung für die Gräueltaten der Kolonialzeit, doch Frankreich bewegt sich nur in kleinen Schritten auf eine Anerkennung dieser Vergangenheit zu. In Algerien bleibt der Befreiungskrieg ein zentraler Bestandteil der nationalen Identität – und die Erinnerungen an die Leiden und Opfer, die der Krieg kostete, sind in der Gesellschaft tief verankert.

Frankreich wiederum steht im Zwiespalt: Viele Franzosen sehen in der Geschichte eine Quelle nationaler Schuld, während andere befürchten, dass eine vollständige Aufarbeitung eine Kette von Forderungen und Diskussionen nach sich ziehen könnte, die Frankreich politisch und moralisch belasten würde. Ein häufig vorgebrachtes Argument ist, dass man die Vergangenheit „ruhen lassen“ solle – ein Vorschlag, der für die Opfer und ihre Nachfahren kaum akzeptabel ist.

Die Kraft der Erinnerung und die Frage nach der Zukunft

Emmanuel Macron hat mit der Anerkennung des Mordes an Ben M’hidi ein kleines, aber bedeutsames Signal gesendet. Doch ob dieser Schritt ausreichen wird, um das Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien zu entspannen, bleibt fraglich. Die offene Wunde, die der Algerienkrieg hinterließ, ist bis heute eine Herausforderung, die weit über politische Statements hinausgeht. Wahrscheinlich wird es erst dann eine echte Annäherung geben, wenn Frankreich sich seiner kolonialen Vergangenheit vollständig stellt und die Forderungen nach Wahrheit und Wiedergutmachung in konkrete politische Taten umsetzt. Doch wird dieser Zeitpunkt jemals kommen?

Die Frage bleibt offen, doch eins ist klar: Der Algerienkrieg ist mehr als nur ein Kapitel in Geschichtsbüchern. Es ist eine Erinnerung, die beide Länder auf unterschiedliche Weise prägt und die auch 70 Jahre später nicht an Bedeutung verloren hat.

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