Paris ist bekannt für seine historischen Bahnhöfe – Gare du Nord, Gare de Lyon, Gare Saint-Lazare. Doch 2025 kommen zwei Newcomer aus der Banlieue auf die große Bühne: Saint-Denis – Pleyel und Villejuif – Gustave-Roussy wurden vom renommierten Prix Versailles unter die „sieben schönsten Bahnhöfe der Welt“ gewählt. Ein doppelter Ritterschlag – nicht nur für die Architektur, sondern auch für die urbane Selbstbehauptung des Großraums Paris.
Ein Bahnhof als Kathedrale. Und einer als urbane Lichtskulptur.
Saint-Denis – Pleyel: Die Zukunft hält unter der Erde
Wer heute in Saint-Denis aus der Metro steigt, landet nicht einfach an einem Knotenpunkt des öffentlichen Nahverkehrs. Sondern in einem unterirdischen Raum, der mit Licht, Glas und Holz überrascht – und berührt.
27 Meter tief liegt der neue Bahnhof Saint-Denis – Pleyel. Entworfen vom japanischen Architekten Kengo Kuma, ist er das neue Prunkstück des Grand Paris Express. Rund 250.000 Reisende sollen hier täglich umsteigen – zwischen den Linien 14, 15, 16 und 17. Doch was sonst als Zweckarchitektur abgestempelt würde, erstrahlt hier als Stadtzeichen.
Die Architektur öffnet sich über mehrere Ebenen wie ein riesiger Lichttrichter. Die Materialien – viel Holz, viel Glas – sorgen für Wärme und Transparenz. Man vergisst fast, dass man sich in einem der dichtesten Verkehrsknotenpunkte Europas befindet. Es fühlt sich an wie ein Raum zum Verweilen – nicht nur zum Durchhetzen.
Was dabei auffällt: Der Bahnhof ist nicht nur für die Menschen gebaut, sondern mit ihnen gedacht. Die Wege sind klar, die Räume großzügig. Man spürt: Hier wurde nicht nur in Quadratmetern geplant, sondern in Bewegungsflüssen, in Tageslicht, in Atmosphäre.
Aber reicht das?
Die wahre Probe kommt bekanntlich im Alltag. Wird der Bahnhof auch nach Monaten noch glänzen? Bleiben die Wege übersichtlich, die Informationen klar, die Toiletten sauber? Architektur kann ein Versprechen sein – aber auch eine schöne Fassade. Der Alltag wird zeigen, was darunter liegt.
Villejuif – Gustave-Roussy: Das Unten als Oben gedacht
Weiter südlich, im Val-de-Marne, setzt ein anderer Bahnhof Maßstäbe – im wahrsten Sinne des Wortes. Villejuif – Gustave-Roussy wirkt wie ein umgedrehter Wolkenkratzer. Eine riesige, zylindrische Halle gräbt sich in die Tiefe. Die Lichtführung von oben verwandelt das, was sonst düster und gedrängt wirkt, in einen Raum mit sakraler Anmutung.
Architekt Dominique Perrault – bekannt für die Französische Nationalbibliothek – hat hier nicht einfach eine Station entworfen. Sondern eine Geste. Ein Zeichen dafür, dass auch die Banlieue Anspruch auf architektonische Exzellenz hat.
Das Design erinnert an eine unterirdische Kathedrale – Beton, Stahl, viel Raum und eine zentrale Öffnung, durch die Licht in die Tiefe fällt. Man schaut nach oben, obwohl man unten ist. Das ist nicht nur ein architektonischer Kniff. Das ist ein Statement.
Denn zu oft wurden die Vorstädte vernachlässigt – als bloße Schlafstädte ohne Anspruch auf Schönheit. Dieser Bahnhof widerspricht dem. Er sagt: Auch hier beginnt die Stadt. Auch hier kann Infrastruktur Ausdruck von Würde sein.
Zwei Bahnhöfe, eine Botschaft
Dass gleich zwei Bahnhöfe aus der Île-de-France im Jahr 2025 zu den schönsten der Welt gekürt wurden, ist kein Zufall. Es ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Wende in der französischen Infrastrukturpolitik – weg von der reinen Zweckdienlichkeit, hin zur gestalterischen Aufwertung des Alltags.
Was früher grau und funktional war, darf heute wieder glänzen. Mobilität wird nicht mehr nur gemessen in Geschwindigkeit und Taktfrequenz, sondern in Aufenthaltsqualität, in Identität, in Stolz. Und ja, in Schönheit.
Der Prix Versailles, der als eine Art „Architektur-Oscar“ gilt, würdigt dabei nicht nur den gestalterischen Anspruch, sondern auch die gesellschaftliche Vision. Beide Stationen zeigen: Es geht nicht nur um Ästhetik. Es geht um ein neues Verhältnis zur Stadt, zur Banlieue, zur Mobilität als Lebensraum.
Schönheit mit Schatten?
Natürlich bleibt eine Frage offen: Was passiert, wenn der Alltag einzieht? Wenn Graffiti, Müll, überfüllte Bahnsteige und technische Defekte das glänzende Bild ankratzen?
Dann wird sich zeigen, ob die neuen Bahnhöfe wirklich mehr sind als nur ein schönes Gesicht.
Die Architektur hat geliefert. Jetzt ist die Betriebsqualität gefragt. Nur wenn Design und Alltag zusammenpassen, wird aus einer architektonischen Ikone ein echter Lieblingsort.
Und ganz ehrlich: Wer träumt nicht davon, morgens zur Arbeit zu fahren – und dabei durch eine Kathedrale zu schreiten?
Ein Fenster in die Zukunft
Saint-Denis – Pleyel und Villejuif – Gustave-Roussy sind nicht nur zwei neue Bahnhöfe. Sie sind Symbole eines neuen Anspruchs. Sie zeigen, dass auch Orte des Übergangs Orte des Erlebens sein können. Dass das Unterwegssein nicht bloß Mittel zum Zweck ist – sondern Teil der städtischen Erzählung.
Ein Bahnhof kann eben mehr sein als ein Bahnsteig. Er kann ein Versprechen sein. Eines auf ein besseres, schöneres, gemeinschaftlicheres Morgen.
Autor: Andreas M. Brucker
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