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Frankreich steht vor einer stillen, aber folgenschweren Herausforderung. Die Versorgung mit Blutplasma, einem unverzichtbaren Rohstoff für lebenswichtige Medikamente, ist zu grossen Teilen von den Vereinigten Staaten abhängig. Rund zwei Drittel des in Frankreich verwendeten Plasmas stammen aus dem Ausland – grösstenteils aus den USA, wo Spender für ihre Leistung entschädigt werden. Diese strukturelle Abhängigkeit wirft grundlegende Fragen auf: nach der Resilienz des französischen Gesundheitssystems, nach der ethischen Integrität des Spendenwesens und letztlich nach der Handlungsfähigkeit des Staates im Krisenfall.

Ethik trifft Realität

Frankreichs Modell des Blut- und Plasmaspendens basiert auf vier Grundprinzipien: Freiwilligkeit, Unentgeltlichkeit, Anonymität und Solidarität. Diese Normen sind fest in der republikanischen Vorstellung von Gemeinwohl und Gleichheit verankert. Anders als in den Vereinigten Staaten wird Plasma nicht vergütet – ein ethischer Standard, der allerdings angesichts der globalen Nachfrage und industriellen Notwendigkeiten zunehmend unter Druck gerät.

Denn während Länder wie die USA mit einem marktwirtschaftlichen System auf hohe Spendenmengen kommen, kämpft Frankreich mit stagnierenden Zahlen. Der freiwillige Beitrag der Bürgerinnen und Bürger reicht schon lange nicht mehr aus, um den steigenden Bedarf an sogenannten Plasmapräparaten – etwa Immunglobulinen oder Gerinnungsfaktoren – zu decken. Diese Medikamente sind zentral für die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit schweren Immunschwächen, Autoimmunerkrankungen oder Hämophilie. Ihre Produktion erfordert grosse Mengen an Rohplasma – ein Rohstoff, der sich nicht synthetisch herstellen lässt und nur durch Spenden gewonnen werden kann.

Eine importierte Abhängigkeit

Frankreich ist nicht allein in dieser Situation: Auch viele andere europäische Länder sind auf Importe aus den USA angewiesen. Doch die französische Lage ist besonders prekär. Weniger als ein Drittel des nationalen Bedarfs kann derzeit durch heimische Spenden gedeckt werden. Der Rest wird importiert – und zwar zu einem erheblichen Teil aus einem Land, dessen Versorgungslogik auf finanziellen Anreizen und industrieller Massenverarbeitung beruht.

Diese Abhängigkeit birgt gleich mehrere Risiken. Erstens unterliegt die globale Plasmaversorgung starken Schwankungen: Exportbeschränkungen, geopolitische Spannungen oder wirtschaftliche Schocks könnten die Lieferketten abrupt unterbrechen. Zweitens setzt sich Frankreich ethischen Zielkonflikten aus, wenn es auf Produkte zurückgreift, die unter Bedingungen entstehen, die es im eigenen Land ablehnt. Und drittens fehlt es an sicherer Planbarkeit – sowohl für die medizinische Versorgung als auch für die industrielle Weiterverarbeitung durch französische Produzenten.

Der nationale Kraftakt: „Ambition Plasma“

Die Politik hat das Problem erkannt – und reagiert mit einem ambitionierten Plan. Unter dem Titel „Ambition Plasma“ verfolgt das zuständige Blutspendeinstitut das Ziel, die nationalen Plasmaspenden bis 2028 zu verdreifachen. Damit soll nicht nur die Abhängigkeit reduziert, sondern auch ein Beitrag zur europäischen Versorgungssicherheit geleistet werden.

Konkret bedeutet das: Der Anteil an Eigenversorgung soll von rund 35 auf über 80 Prozent steigen. Die Zahl der regelmässigen Plasmaspenderinnen und -spender soll mehr als verdoppelt werden. Neue Spendezentren entstehen, bestehende Strukturen werden modernisiert, Öffnungszeiten ausgeweitet und Informationskampagnen auf jüngere Generationen zugeschnitten. Auch die Regeln für die Spendetauglichkeit wurden gelockert – etwa bei Wartezeiten nach Tattoos oder Piercings. Sogar Telemedizin kommt zum Einsatz, um ärztliche Vorgespräche effizienter zu gestalten.

Doch die Herausforderung ist nicht nur logistischer oder kommunikativer Natur. Auch strukturelle Fragen rücken ins Zentrum: Das öffentliche Spendenwesen arbeitet defizitär, seine Finanzierungsbasis ist fragil. Parallel dazu erhält der staatlich kontrollierte Pharmakonzern, der das Plasma verarbeitet, grosse Investitionen – unter anderem für eine neue Produktionsstätte. Kritiker monieren ein Ungleichgewicht in der Mittelverteilung und warnen vor einem schleichenden Übergang zu einem kommerziellen Modell, das dem französischen Ethos zuwiderlaufen würde.

Zwischen Prinzipientreue und Versorgungssicherheit

Die Debatte über die Zukunft der Plasmaversorgung in Frankreich ist mehr als eine technische Frage der Gesundheitsplanung. Sie berührt Grundsatzfragen der öffentlichen Ordnung. Wie viel Marktverträglichkeit verträgt ein ethisch motiviertes Gesundheitssystem? Wo endet die moralische Überlegenheit freiwilliger Spende, wenn die Versorgung zu einem überwiegenden Teil auf Importe aus einem fundamental anders funktionierenden System angewiesen ist?

Es ist ein Balanceakt: Zwischen ethischen Idealen und pragmatischen Notwendigkeiten, zwischen staatlicher Steuerung und industrieller Effizienz. Frankreich steht damit exemplarisch für eine europäische Herausforderung – und muss zeigen, ob sich Gesundheitssouveränität und Solidarität in einer globalisierten Welt tatsächlich miteinander vereinbaren lassen.

Autor: P. Tiko

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