Tag & Nacht




Wenn große Städte sprechen, dann hören Nationen zu. Und Marseille hat gesprochen – laut, klar und mutig. Am 22. September 2025, dem Tag, an dem Frankreich endlich die Staatlichkeit Palästinas anerkannt hat, verkündete Bürgermeister Benoît Payan einen offiziellen Städtebund zwischen Marseille und Bethlehem. Das ist mehr als ein symbolischer Akt – es ist ein Paukenschlag. Einer, der zeigt, dass es in Frankreich noch politische Verantwortung, moralischen Kompass und den Mut zur Haltung gibt.

In einer Zeit, in der sich die europäische Diplomatie hinter Floskeln versteckt und Menschenrechte oft nur dann zählen, wenn sie geostrategisch nützlich sind, setzt Marseille ein Zeichen der Zivilcourage. Dieser Städtebund ist keine diplomatische Pflichtübung, kein PR-Gag mit Pressefoto und Palästina-Fahne am Rathaus. Nein, das hier ist ein echtes Bekenntnis – zu einer unterdrückten Bevölkerung, zu internationalem Recht, zur Idee von Gerechtigkeit.

Denn wer Bethlehem wählt, wählt nicht irgendeine Stadt. Er wählt ein Symbol des Ausharrens, der Würde und der Wunden. Bethlehem ist der Geburtsort der Hoffnung – aber auch ein Ort, der unter Besatzung lebt. Der von Mauern umschlossen ist, von wirtschaftlicher Isolation, von einem Alltag, der von Checkpoints, Stromausfällen und Einschränkungen geprägt ist. Marseille sagt nun: Wir sehen euch. Wir stehen an eurer Seite. Und das wiegt mehr als jede Resolution in New York.

Natürlich ist diese Entscheidung ein Affront für manche. Der Zentralrat der Juden in Frankreich wird protestieren. Die israelische Botschaft wird sich empören. Rechte Parteien werden sofort “Islamisierung” oder “politischer Missbrauch” schreien. Es ist absehbar. Aber es ist auch entlarvend. Denn der Aufschrei zeigt, wie wenig Raum es in Teilen der französischen Öffentlichkeit für palästinensisches Leben, Leiden und Recht auf Existenz gibt – ganz zu schweigen von Solidarität.

Und genau deshalb ist dieser Akt so notwendig. Marseille hat erkannt, was Paris zu oft ignoriert: dass Außenpolitik nicht nur auf Regierungsebene gemacht wird. Städte sind Akteure. Und Marseille – diese wilde, widersprüchliche, laute Hafenstadt mit ihrer Migration, ihrer Vielfalt, ihren sozialen und kulturellen Brüchen – ist prädestiniert dafür, eine Brücke zu Bethlehem zu schlagen.

Hier leben tausende Menschen mit familiären, kulturellen oder politischen Verbindungen zu Palästina. Sie erleben Tag für Tag, wie ihr Schmerz marginalisiert, ihre Geschichte delegitimiert wird. Diese Städtepartnerschaft gibt ihnen Würde zurück. Und schafft die Chance, reale Kooperationen zu etablieren – kulturell, humanitär, zivilgesellschaftlich. Wer das nur für Symbolpolitik hält, hat die Kraft solcher Gesten nicht verstanden.

Man stelle sich vor: Austauschprogramme zwischen Schulen in Marseille und Bethlehem. Gemeinsame Stadtentwicklungsprojekte. Kulturfestivals, bei denen palästinensische Künstler in der Oper von Marseille auftreten. Know-how-Transfer bei Wasser- und Energieinfrastruktur. Oder einfach nur: eine Plattform, auf der junge Menschen aus beiden Städten einander begegnen, jenseits der Klischees.

Das alles ist möglich – wenn der politische Wille da ist, die bloße Unterschrift mit Leben zu füllen. Und hier liegt die eigentliche Bewährungsprobe: Wird Marseille den Mut haben, den Weg weiterzugehen? Oder war es doch nur ein symbolischer Schulterschluss im Schatten einer historischen UN-Abstimmung?

Fest steht: Die Bedeutung dieses Aktes reicht weit über Marseille hinaus. Er sendet eine Botschaft an alle europäischen Städte: Ihr könnt Haltung zeigen. Ihr könnt die Stimme erheben. Ihr könnt euch positionieren – auch dann, wenn die nationale Regierung zögert. Denn Politik beginnt nicht in den Palästen von Paris oder Berlin. Sie beginnt dort, wo Menschen leben, hoffen, kämpfen – in den Straßen von Marseille. Und in den Gassen von Bethlehem.

Bravo, Marseille. Das war keine Geste. Das war Geschichte.

Ein Kommentar von Daniel Ivers

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