Ein graublauer Himmel hängt über der Aude, als ob der Herbst selbst beschlossen hätte, die alten Steine der Stadt sanft in seine Arme zu schließen. Carcassonne – diese majestätische Festung aus einer anderen Zeit – erwacht auch im November zum Leben. Zwischen den Toren von Saint-Louis und Philippe le Bel weht der Wind über die Zinnen, trägt das Lachen von Kindern und das Klirren hölzerner Schwerter durch die Gassen.
„Es ist einfach herrlich hier“, ruft eine Frau aus dem Beaujolais, die mit ihrer Familie an der Porte Narbonnaise steht. „Jetzt, wo weniger los ist, gehört die Stadt irgendwie uns.“ Sie lächelt, zieht den Schal enger und schaut hinüber zum Château Comtal, dessen Türme in der fahlen Herbstsonne schimmern.
Zwischen Ritterspielen und ruhigen Momenten
Im Sommer drängen sich 25.000 Menschen täglich durch die schmalen Gassen – jetzt sind es weniger als 17.000. Eine Wohltat. Das Gedränge weicht einem gemächlichen Schlendern. Kein Hupen, keine Hektik, nur das Knirschen der Kieselsteine unter den Schuhen.
Auf dem kleinen Platz vor dem Burggraben üben Kinder den Schwertkampf. Die Holzwaffen prallen klackend aufeinander, während Eltern mit dampfenden Bechern aus der Crêperie daneben zuschauen. „Im Sommer ist das alles viel zu voll, da hat man kaum Platz zum Atmen“, sagt eine Touristin aus Lyon. „Jetzt kann man durchatmen – na gut, ein bisschen Sonne würde nicht schaden, aber Hauptsache, es regnet nicht!“
Ein Satz, den jeder versteht, der im Süden Frankreichs schon mal die Launen des Mistrals erlebt hat.
Ein Schatz für die, die hier leben
Doch nicht nur die Besucher profitieren. Für die Einheimischen bedeutet diese verlängerte Saison weit mehr als nur volle Tische und zufriedene Gäste. Laurent Milbergue, Wirt des Restaurants Le Ménestrel, wischt sich kurz die Hände an der Schürze ab, bevor er erzählt:
„Vor zwanzig Jahren war nach September Schluss. Da stand die Stadt fast leer. Heute läuft’s das ganze Jahr über. Die Leute wollen Geschichte – echte Geschichte, nicht nur auf dem Bildschirm.“
Seine Augen leuchten, während er den Blick durch das Fenster schweifen lässt, hinaus auf die Straße, wo eine kleine Gruppe Touristen gerade einem Schauspieler in Rüstung folgt. „Sehen Sie?“, sagt er und lacht. „So bleibt die Stadt lebendig.“
Wenn Steine Geschichten erzählen
Man braucht nicht viel Fantasie, um sich das Mittelalter hier vorzustellen. Auf dem Château du Comtal, dessen Ursprung im 13. Jahrhundert liegt, kann man förmlich hören, wie die Ritterrüstungen klirren. Von den Zinnen aus breitet sich der Blick weit über das Tal der Aude – Felder, Weinberge, dahinter die Gipfel der Pyrenäen.
Ein älteres Paar aus Bordeaux lehnt sich an die Mauer, schweigt, schaut. „Man spürt irgendwie, dass hier vieles überdauert hat“, sagt der Mann schließlich leise. Vielleicht ist es das, was Carcassonne so besonders macht: Es ist nicht nur ein Denkmal, es ist ein atmender Organismus, der Menschen seit Jahrhunderten in seinen Bann zieht.
Und doch – wie lange kann eine Stadt die Balance halten zwischen Tourismus und Authentizität?
Der Zauber des Herbstes
An diesem Wochenende wird es bunt. Am Freitagabend ist Halloween. Zwischen den alten Steinen huschen Kinder in Umhängen, Hexenhüte wackeln, Kürbisse leuchten im Zwielicht. Im Château selbst findet eine „mittelalterliche Detektivnacht“ statt. Die Besucher lösen Rätsel, während das Licht flackernd über die Mauern tanzt.
„Jedes Jahr denken wir uns etwas Neues aus“, erzählt eine junge Mitarbeiterin vom Fremdenverkehrsbüro, „sonst schlafen die Mauern ein.“ Sie zwinkert. „Aber Carcassonne schläft eigentlich nie.“
Wie recht sie hat.
Am Sonntagmorgen liegt dann wieder Ruhe über der Stadt. Ein Hahn kräht irgendwo, und aus den Fenstern steigt Kaffeeduft. Auf dem Platz vor der Basilika Saint-Nazaire sitzen ein paar Frühaufsteher bei Croissants. Der Nebel zieht über die Dächer, und die Sonne kämpft sich langsam durch.
Zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Vielleicht liegt die Faszination von Carcassonne genau hier – in diesem Schwebezustand. Zwischen dem Klang von Schritten auf alten Steinen und dem Surren einer Smartphone-Kamera, zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen Alltag und Märchen.
Manchmal bleibt jemand stehen, legt die Hand an die Mauer und spürt die raue Oberfläche des Kalksteins. Wie viele Hände haben das wohl vor ihm getan? Hunderte? Tausende? Millionen?
Eine junge Mutter erzählt ihrer Tochter, dass hier einst Ritter und Prinzessinnen gelebt haben. Das Kind nickt ehrfürchtig, als sei das eben erst gestern gewesen.
Ein Ort, der verbindet
Für die Gastronomen, Händler, Schauspieler und Guides ist Carcassonne weit mehr als Arbeitsplatz. Es ist eine Bühne, auf der sie gemeinsam ein Stück Geschichte am Leben halten. Und während viele Orte in der Nebensaison verwaisen, lebt die Festung weiter – mit Musik, Lachen und Geschichten, die sich von Stein zu Stein tragen.
Ein alter Gitarrist spielt in einer Ecke des Place Marcou „La vie en rose“. Eine Gruppe Touristen bleibt stehen, summt leise mit. Für einen kurzen Moment scheint die Zeit stillzustehen.
Und genau das macht Carcassonne im Herbst so magisch: Diese Mischung aus Stille und Leben, aus Gegenwart und Erinnerung.
Ein Sonntag voller Geschichte
Wenn die Sonne am Nachmittag die Mauern golden färbt, versteht man, warum Generationen hierherkommen. Nicht, um etwas Neues zu entdecken, sondern um sich selbst ein Stück zu verlieren – in der Zeit, im Wind, in den Geschichten, die die Stadt erzählt.
Wer einmal abends durch das Tor de l’Aude gegangen ist, wenn die Lichter angehen und die Schatten länger werden, weiß: Carcassonne ist keine Kulisse. Es ist eine lebendige Chronik, die weitergeschrieben wird – jeden Tag, von jedem Besucher, von jedem Lächeln, von jedem Schritt über das Kopfsteinpflaster.
Ein Ort, an dem selbst der Herbst nach Abenteuer riecht.
Ein Artikel von M. Legrand
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