Ein Yogakurs, ein ruhiger Frühlingstag – und dann zweimal Schüsse, die eine ganze Gemeinde erschüttern. Was in der kleinen Gemeinde Châtonnay im Département Isère am 30. April geschah, klingt wie aus einem düsteren Film. Nur war dieses Drama grausame Realität.
Ein Mann in den Sechzigern erschießt einen anderen – ebenfalls über 60 – in dessen Haus. Kurz darauf fährt er zur Dorfhalle, betritt den Raum, in dem seine Frau gerade Yoga macht, und richtet sich vor aller Augen selbst mit zwei Schüssen hin. Vorher sagt er noch zu ihr: „Schau mich gut an, schau, was ich jetzt mache.“ Ein Satz, der den Anwesenden sicher noch lange im Ohr bleiben wird.
Zwei Orte, ein Albtraum
Die Tat beginnt gegen Mittag. Route de la Montagne – eine Straße, die am Rand von Châtonnay in die sanften Hügel führt. Dort wohnt das erste Opfer. Warum ausgerechnet er? Die Ermittler vermuten: Er war der neue Partner der Frau des Täters. Eifersucht, Kränkung, Kontrollverlust? Noch ist vieles Spekulation. Klar ist: Der Angreifer betritt das Haus und schießt mehrmals. Die Rettungskräfte treffen zu spät ein. Der Mann ist tot.
Doch das war erst der Anfang.
Kurze Zeit später taucht der Täter in der Mehrzweckhalle der Gemeinde auf. Ein Yogakurs läuft gerade. Die Teilnehmer – darunter seine eigene Ehefrau – sind mitten in den Übungen, als der Mann hereinkommt. Seine letzten Worte, sein Blick, dann der Suizid. Zwei Kugeln in den Kopf. Die Anwesenden, darunter mehrere Frauen, glauben für einen Moment, sie alle seien in Lebensgefahr. Ein Teilnehmer sagte später, es habe sich angefühlt wie in einem Albtraum – und man sei plötzlich mittendrin gewesen.
Stille nach dem Knall
Die Szene danach: unheimlich still. Der Körper des Mannes liegt am Boden. Menschen stehen geschockt, manche weinen, andere starren ins Leere. Rettungskräfte versuchen noch zu helfen – vergeblich. Auch der Täter stirbt vor Ort.
Was bleibt, ist ein Bild des Grauens. Und eine Gemeinde, die nicht weiß, wie ihr geschieht.
Ermittlungsarbeit mit vielen Fragen
Die Staatsanwaltschaft in Vienne hat ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes eingeleitet. Die Untersuchungen übernimmt die dortige Kriminalpolizei. Die Spurenlage ist klar – doch das Motiv bleibt im Dunkeln. Wieso diese Eskalation? Gab es Anzeichen? Wer hätte das verhindern können?
Die Vermutung, dass der Ermordete der neue Lebensgefährte der Ehefrau war, wirft weitere Fragen auf: War es ein Mord aus verletztem Stolz? War der Täter bereits psychisch labil?
Psychologen sprechen bei solchen Taten oft von einem „erweiterten Suizid“ – einem letzten Versuch, Kontrolle zu demonstrieren, Rache zu nehmen. Doch Erklärungen helfen den Betroffenen kaum weiter. Was sie jetzt brauchen, ist Hilfe, Trost und vor allem – Geduld.
Dorfidylle mit Riss
Châtonnay, rund 2.000 Einwohner. Ein Ort, der bisher eher durch Ruhe und Gemeinschaft auffiel. Man kennt sich, grüßt sich, redet über das Wetter – oder über das nächste Dorffest. Genau deshalb sitzt der Schock so tief.
Der Bürgermeister, Jean-Michel Nogueras, zeigte sich erschüttert. Worte wie „unfassbar“ und „tragisch“ fallen immer wieder. In kleinen Orten sind solche Ereignisse mehr als nur Nachrichten – sie reißen Lücken in das soziale Gefüge. Und in das Gefühl von Sicherheit.
Die Menschen hier stellen sich viele Fragen. Allen voran: Hätte man es kommen sehen müssen?
Wenn private Konflikte eskalieren
Hinter dieser Tat steht auch eine tiefere Wahrheit – eine unbequeme. Familiäre Konflikte, Eifersucht, psychischer Druck: Themen, die oft tabuisiert werden. Besonders bei älteren Paaren, wo man annimmt, die Dinge seien „geregelt“. Doch das ist oft ein Trugschluss.
Psychologen warnen seit Jahren: Wer emotionale Belastungen in sich hineinfrisst, kann irgendwann explodieren. Der Täter hatte offenbar keine andere Lösung mehr gesehen – zumindest keine, die er für sich akzeptieren konnte.
Aber ist das ein Grund? Natürlich nicht. Es zeigt jedoch, wie wichtig es ist, Konflikten Raum zu geben – bevor sie eskalieren.
Zeugen und Angehörige brauchen Hilfe
Die Frau des Täters, die Augenzeugin des Selbstmords wurde, steht jetzt vor einem Scherbenhaufen. Genauso wie die anderen Teilnehmer des Yogakurses. Für sie war dieser Tag mehr als nur verstörend – er hat ihre Lebensrealität auf den Kopf gestellt.
Deshalb stehen nun psychologische Betreuer bereit. Die Gemeinde organisiert Unterstützungsangebote. Auch überregionale Hilfsdienste wurden aktiviert. Denn was viele unterschätzen: Solche Traumata bleiben nicht selten ein Leben lang haften.
Was nun?
Die Ermittlungen laufen weiter. Ob ein Abschiedsbrief existiert, ob es Warnzeichen gab – all das ist noch offen. Doch eines ist bereits jetzt klar: Dieses Verbrechen hat Wunden hinterlassen. Und es wird dauern, bis sie heilen.
Vielleicht – und das ist die bittere Hoffnung – hilft dieses tragische Beispiel, dass man in anderen Familien früher hinschaut, früher spricht, früher Hilfe sucht. Denn wer schweigt, lädt das Unsichtbare ein – und das kann gefährlich sein.
Oder, um es deutlich zu sagen: Niemand explodiert ohne Vorgeschichte. Doch man muss sie erkennen wollen.
Von Andreas M. Brucker
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