Eine direkte Bahnverbindung zwischen Marseille und London – das klingt wie ein Relikt aus einer optimistischeren Ära europäischer Zusammenarbeit. Doch genau dieses Projekt nimmt wieder Fahrt auf. In Zeiten wachsender Umweltbewusstheit und eines klaren politischen Signals für nachhaltige Mobilität erscheint es fast überfällig.
Zurück in die Zukunft der Mobilität
Der März 2025 brachte eine spannende Wende: Eurotunnel (Getlink) und London Saint-Pancras Highspeed haben offiziell ihre Zusammenarbeit angekündigt. Ziel ist es, den Hochgeschwindigkeitsverkehr zwischen London und dem Festland Europas auszubauen. Neben Köln, Zürich und Genf wurde auch Marseille als mögliche Endstation ins Spiel gebracht – eine Option mit erheblichem Potenzial. Die Idee: Nur Städte mit unter sechs Stunden Fahrzeit von London sollen für den neuen Schnellzug infrage kommen. Marseille, über Lyon angebunden, erfüllt diese Bedingung.
Wird hier also gerade ein neuer europäischer Eisenbahntraum geboren?
Trenitalia rückt nach – Konkurrenz auf der Schiene
Auch Italien mischt kräftig mit. Trenitalia, der nationale Bahnkonzern, plant eine Schnellverbindung von London nach Mailand bis 2029. Der Clou: Die Strecke soll über Paris führen. Von dort aus ist eine Verlängerung nach Süden, also auch nach Lyon und Marseille, im Gespräch. Eine milliardenschwere Investition – mit der Ambition, dem Eurostar Paroli zu bieten.
Obwohl Marseille bei Trenitalia bislang nicht explizit als Zielort auftaucht, scheint eine Einbindung in das Streckennetz fast logisch. Schließlich liegt die südfranzösische Metropole ideal zwischen Paris und Mailand – und könnte sich somit zum neuen Drehkreuz entwickeln.
Der grüne Wandel auf Schienen
Fliegen war gestern. Immer mehr Menschen entscheiden sich bewusst gegen das Flugzeug und für den Zug. Das hat gute Gründe: Der CO₂-Ausstoß eines Zuges liegt bis zu 90 Prozent unter dem eines Flugzeugs. Gerade auf mittleren Distanzen zwischen 500 und 1.000 Kilometern wird der Zug zur echten Alternative.
Und Hand aufs Herz – wer steigt nicht lieber stressfrei in einen Zug ein, um gemütlich durch Landschaften zu gleiten, statt sich am Flughafen mit Sicherheitskontrollen und Verspätungen herumzuschlagen?
Die Bahn wird zum Symbol der klimabewussten Mobilität – ein rollender Hoffnungsträger.
Hürden auf dem Weg zum Ziel
So viel Begeisterung – doch die Realität bleibt kompliziert.
Ein durchgehender Zug von London nach Marseille ist kein Selbstläufer. Zunächst braucht es massive Investitionen in Infrastruktur und Technik. Dann muss die Zusammenarbeit mehrerer Bahnunternehmen funktionieren. Und nicht zuletzt ist die Zoll- und Grenzfrage nach dem Brexit ein nicht zu unterschätzender Stolperstein.
Hinzu kommt: Die Konkurrenz schläft nicht. Billigfluglinien locken mit Kampfpreisen. Die wirtschaftliche Tragfähigkeit einer solchen Zugverbindung steht und fällt mit der Zahlungsbereitschaft der Kunden. Wer nimmt einen teureren, langsameren Zug, wenn er für einen Bruchteil des Preises fliegen kann?
Eine Antwort auf diese Frage hängt auch davon ab, wie viel uns eine umweltfreundliche Zukunft tatsächlich wert ist.
Vision oder bald Wirklichkeit?
Die Idee, London und Marseille wieder direkt zu verbinden, ist mehr als Nostalgie. Es geht um nichts Geringeres als den Umbau der europäischen Mobilität. Die beteiligten Akteure zeigen Engagement – sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Doch aus Plänen müssen jetzt konkrete Schritte werden.
Vielleicht erleben wir gerade den Anfang einer neuen Ära, in der Europa nicht nur über Klimaziele spricht, sondern sie auch konsequent auf die Schiene bringt.
Denn wer Europa stärken will, muss es verbinden – auch mit Zügen, nicht nur mit Worten.
Von Andreas M. Brucker
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