Tag & Nacht




Die spektakuläre Niederlage des Premierministers François Bayrou im Parlament am 8. September 2025 ist mehr als nur ein weiteres Kapitel im politischen Theater der Fünften Republik. Sie ist ein Weckruf – brutal, unüberhörbar, zwingend. 364 Abgeordnete verweigerten Bayrou ihr Vertrauen, nur 194 stellten sich hinter ihn. Dieses Resultat ist nicht einfach die Abrechnung mit einem schwachen Regierungschef, es ist das Fieberthermometer einer Republik, die im sozialen Dauerfieber brennt.

Und doch wirkt Emmanuel Macron, als höre er nichts. Als wäre all das nur Lärm, den man aussitzen könne. Herr Präsident, das ist ein verhängnisvoller Irrtum.

Ein Präsident im Elfenbeinturm

Seit Jahren verweigert Macron die Auseinandersetzung mit der sozialen Realität. Reformen werden von oben durchgedrückt, seien es Rentenkürzungen, Privatisierungen oder die ständige Predigt von Wettbewerbsfähigkeit und Haushaltsdisziplin. Doch während die Bilanzen großer Konzerne glänzen, verlieren Millionen Haushalte den Anschluss: steigende Mieten, steigende Preise, bröckelnde öffentliche Infrastruktur. Das Leben der Mehrheit ist längst kein „Projekt Europa“, sondern ein täglicher Kampf ums Überleben.

Bayrou musste gehen, weil er nichts davon begriffen hat. Aber die Verantwortung liegt bei Ihnen, Herr Macron. Sie haben ihn ins Amt gehievt und ihm eine Mission gegeben, die scheitern musste: die Illusion, man könne ein gespaltenes Land mit technokratischen Kompromissen beruhigen.

„Keine Stabilität ohne soziale Gerechtigkeit“

Sophie Binet, die Chefin der CGT, hat es auf den Punkt gebracht: „Il n’y aura pas de stabilité sans justice sociale.“ Dieser Satz ist nicht bloß eine gewerkschaftliche Parole. Er ist die Quintessenz der französischen Geschichte. 1789, 1848, 1968 – immer dann, wenn soziale Ungleichheit ins Unerträgliche wuchs, wurde Frankreich zur Bühne politischer Explosionen. Wer heute Stabilität predigt, ohne soziale Gerechtigkeit zu schaffen, verkennt diese geschichtliche Lektion.

Die Straße hat schon einmal die Agenda diktiert, als Millionen gegen die Rentenreform demonstrierten. Sie kann es wieder tun. Jede neue Regierung, die soziale Fragen ignoriert, steht unter diesem Damoklesschwert.

Der Zorn der Gesellschaft

Es ist eine gefährliche Selbsttäuschung, Proteste als Randerscheinungen oder von „Extremisten“ gelenkt abzutun – eine Taktik, die auch Bayrou versuchte. Die Wahrheit ist: Dieser Zorn ist mehrheitsfähig. Er nährt sich aus der Erfahrung, dass Reichtum immer ungleicher verteilt wird, dass Pflegekräfte, Lehrer, Arbeiter und Angestellte für ein System schuften, das sie nicht schützt.

Wenn Macron glaubt, er könne Stabilität kaufen, indem er einen weiteren Premierminister aus dem Hut zaubert, irrt er gewaltig. Die nächste Krise ist programmiert, solange er soziale Gerechtigkeit nicht zur Priorität macht.

Frankreich am Scheideweg

Herr Macron, Ihre Präsidentschaft taumelt. Die Fünfte Republik ist ins Wanken geraten, weil sie zu einer Maschine der Macht geworden ist, die am Volk vorbeiregiert. Was heute zerbricht, ist das Vertrauen, dass Institutionen die Interessen der Mehrheit vertreten können.

Die Alternative ist klar: Entweder Sie öffnen sich für eine Politik, die die soziale Frage ins Zentrum rückt – höhere Löhne, stärkere öffentliche Dienste, Umverteilung – oder Sie riskieren, dass Frankreich in einen neuen Zyklus permanenter Instabilität abgleitet.

Sie haben die Wahl: zuhören – oder untergehen.

Ein Kommentar von Daniel Ivers

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