In der Nacht vom 17. auf den 18. Januar wurde in der Drôme, in der Gemeinde Oriol-en-Royans, ein Wolf erschossen. Das Tier wurde laut Angaben der Präfektur während eines Angriffs auf ein Nutztierherde von einem Lieutenant de louveterie – einem speziell ausgebildeten Wildhüter – erlegt. Es ist der zweite Wolf, der in diesem Jahr im Département Drôme getötet wurde, und insgesamt der achte in Frankreich.
Dieser Abschuss erfolgte im Rahmen eines sogenannten „einfachen Verteidigungsschusses“. Dabei handelt es sich um eine Maßnahme, die laut Gesetz greifen darf, wenn ein Wolf nachweislich Schäden an einer Herde verursacht hat und andere Präventionsmaßnahmen nicht ausreichen. Die Präfektur betont, dass der Abschuss „ergänzend zu den Schutzmaßnahmen“ des betroffenen Landwirts durchgeführt wurde – eine Formulierung, die zeigen soll, dass das Töten des Tieres nur als letzte Möglichkeit angewandt wurde.
Doch was steckt hinter diesem erneuten Abschuss? Und warum polarisiert der Umgang mit dem Wolf weiterhin so stark?
Wölfe und Bauern: Ein schwieriges Miteinander
Die Rückkehr der Wölfe nach Frankreich ist eine Erfolgsgeschichte des Artenschutzes – und gleichzeitig eine Herausforderung für die ländlichen Regionen. Nachdem der Wolf im 20. Jahrhundert in Westeuropa fast ausgerottet wurde, kehrten die Tiere in den 1990er-Jahren aus Italien zurück. Heute leben laut offiziellen Schätzungen etwa 1.000 Wölfe in Frankreich, mit Schwerpunkten in den Alpen und den Pyrenäen.
Für Landwirte, die ihre Schafe und Ziegen auf Weiden halten, ist das jedoch nicht nur ein Grund zur Freude. Wölfe sind geschickte Jäger, die vor allem in entlegenen, schlecht geschützten Gebieten leichtes Spiel haben. Obwohl es staatliche Förderungen für den Einsatz von Herdenschutzhunden, Elektrozäunen oder andere Maßnahmen gibt, fühlen sich viele Bauern allein gelassen. Sie fürchten um ihre Existenz – und nicht ohne Grund: Im Jahr 2023 wurden über 10.000 Tiere in Frankreich von Wölfen gerissen.
Man kann sich die Frustration der Landwirte vorstellen: Wenn ein Angriff auf eine Herde erfolgt, stehen sie oft vor einem Scherbenhaufen. Emotional und finanziell. Aber ist der Abschuss des Raubtieres wirklich die einzige Lösung?
Ein umstrittenes Thema: Der Abschuss als „Lösung“?
Die Diskussion über den Umgang mit Wölfen entzweit Frankreich – und das nicht nur zwischen Umweltschützern und Landwirten, sondern auch innerhalb der Gesellschaft. Viele Menschen sehen in der Rückkehr des Wolfes ein Symbol für die wiedererstarkte Wildnis Europas. Für sie steht der Wolf für einen natürlichen Gleichgewichtszustand, den der Mensch durch seine Eingriffe in die Natur gestört hat.
Auf der anderen Seite stehen die Realitäten des ländlichen Lebens. Landwirte argumentieren, dass ihre Tiere nicht nur eine Einkommensquelle, sondern auch ein Teil ihres Lebens sind. Sie fühlen sich oft von der Politik und den Städten missverstanden. Wie erklärt man jemandem, der in Paris lebt, was es bedeutet, morgens auf eine Weide zu kommen und die Hälfte der Herde tot vorzufinden?
Das französische Recht versucht, eine Balance zu finden. Jedes Jahr legt die Regierung eine Obergrenze fest, wie viele Wölfe getötet werden dürfen – 2025 sind es 192 Tiere. Diese Zahl basiert auf Berechnungen, die sicherstellen sollen, dass die Population nicht gefährdet wird. Aber Kritiker argumentieren, dass solche Zahlen willkürlich sind. Kann man wirklich exakt vorhersagen, wie viele Wölfe eine Population braucht, um stabil zu bleiben?
Prävention oder Abschuss? Was bringt wirklich etwas?
Die Präfektur der Drôme betonte im Fall des jüngsten Abschusses, dass der betroffene Landwirt bereits Schutzmaßnahmen wie Zäune und Herdenschutzhunde eingesetzt hatte. Doch genau hier liegt das Problem: Manche Maßnahmen sind teuer, andere funktionieren nicht in jedem Gelände. Elektrozäune etwa sind in den Bergen oder auf großen Weideflächen oft schwer umsetzbar.
Herdenschutzhunde gelten als eine der effektivsten Methoden, um Wölfe abzuhalten. Doch auch sie sind keine perfekte Lösung. Sie müssen gut ausgebildet und ständig überwacht werden – ein Aufwand, der für viele Landwirte kaum zu bewältigen ist. Zudem gibt es immer wieder Konflikte zwischen Schutzhunden und Wanderern, was in touristischen Regionen zusätzliche Spannungen schafft.
Ein weiteres Problem ist die Anpassungsfähigkeit des Wolfes. Diese Tiere lernen schnell, wie sie Zäune überwinden oder Schutzhunde austricksen können. Es ist ein ständiges Katz-und-Maus-Spiel zwischen Mensch und Tier. Kann man diesen Wettlauf überhaupt gewinnen?
Ein Balanceakt zwischen Naturschutz und Landwirtschaft
Der Konflikt um den Wolf zeigt, wie schwierig es ist, zwischen Naturschutz und wirtschaftlichen Interessen zu vermitteln. Einerseits sind Wölfe ein wichtiger Teil des Ökosystems. Sie regulieren Wildtierpopulationen, fördern die Artenvielfalt und tragen dazu bei, dass natürliche Lebensräume gesund bleiben.
Andererseits darf man die Sorgen der Landwirte nicht ignorieren. Es geht hier nicht nur um Zahlen und Statistiken, sondern um Existenzen. Viele Bauern kämpfen ohnehin schon mit sinkenden Preisen, steigenden Kosten und immer härteren Wettbewerbsbedingungen. Der zusätzliche Druck durch Wölfe ist für einige einfach zu viel.
Eine langfristige Lösung erfordert deshalb mehr als nur Abschüsse oder technische Maßnahmen. Es braucht einen echten Dialog – zwischen Wissenschaft, Politik, Landwirtschaft und Naturschutz. Denn nur wenn alle Seiten an einem Strang ziehen, kann ein nachhaltiges Zusammenleben gelingen.
Ist der Wolf wirklich das Problem?
Zum Schluss bleibt die Frage: Warum fokussieren wir uns so stark auf den Wolf? In der öffentlichen Debatte wird er oft als Sündenbock dargestellt, der alles noch schwieriger macht. Doch in Wahrheit spiegelt der Konflikt um den Wolf ein viel größeres Problem wider: die zunehmende Entfremdung zwischen Mensch und Natur.
Wölfe sind keine „bösen“ Tiere, die absichtlich Schaden anrichten. Sie tun, was sie immer getan haben – sie jagen, um zu überleben. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, wie wir Menschen die Natur für unsere Zwecke nutzen und welche Rolle wir den wilden Tieren darin zugestehen.
Vielleicht sollten wir den Wolf nicht als Feind sehen, sondern als Lehrmeister. Er zeigt uns, dass wir uns besser mit der Natur arrangieren müssen – und nicht umgekehrt. Aber sind wir bereit, diese Lektion zu lernen?
Der Fall aus der Drôme ist nur ein kleines Kapitel in einer viel größeren Geschichte. Einer Geschichte, in der es nicht nur um Wölfe geht, sondern um die Frage, wie wir in einer Welt leben wollen, die wir mit anderen Lebewesen teilen.
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!