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In Vannes beginnt heute ein Prozess, der als einer der größten Fälle von Pädokriminalität in die französische Justizgeschichte eingeht. Der ehemalige Chirurg Joël Le Scouarnec muss sich für sexuelle Gewalt an 299 Opfern verantworten – überwiegend Kinder. Über vier Monate hinweg wird die Kriminalkammer des Départements Morbihan die Vorwürfe untersuchen.

Jahrzehntelanger Missbrauch unter dem Deckmantel der Medizin

Die meisten Opfer waren zum Tatzeitpunkt minderjährig, 256 von ihnen sogar jünger als 15 Jahre. Viele befanden sich in Narkose oder in der Aufwachphase nach Operationen, als die Übergriffe stattfanden. Der heute 74-jährige Le Scouarnec hat seine Taten in den meisten Fällen eingeräumt.

Bereits 2020 war er zu 15 Jahren Haft verurteilt worden, nachdem er sich an vier Kindern vergangen hatte – darunter zwei seiner eigenen Nichten. Doch diese Fälle waren nur die Spitze des Eisbergs. Seine systematischen Übergriffe, begangen zwischen 1989 und 2014 in mehreren Krankenhäusern im Westen Frankreichs, kamen erst nach und nach ans Licht.

Tagebücher enthüllen das ganze Ausmaß

Der entscheidende Durchbruch für die Ermittler kam 2017. Eine sechsjährige Nachbarstochter zeigte den Chirurgen wegen Vergewaltigung an, woraufhin eine Hausdurchsuchung durchgeführt wurde. Dabei stießen die Ermittler auf seine Tagebücher – ein verstörendes Zeugnis jahrzehntelanger Straftaten.

Darin notierte er akribisch Namen, Alter und Adressen der Opfer sowie die sexuellen Handlungen, die er an ihnen verübte. Seine Aufzeichnungen brachten die Ermittler schließlich auf die Spur von fast 300 Missbrauchsopfern.

Viele Betroffene hatten bis dahin keine Erinnerung an die Taten – verdrängt durch eine traumatische Amnesie. Einer von ihnen, der als Kind Opfer des Chirurgen wurde, erklärte: „Ich lebe jeden Tag mit den Folgen, auch wenn ich mich nicht an alles erinnere.“

„Ich bin Pädophiler“ – Ein Täter ohne Reue?

Joël Le Scouarnec hat nie ein Geheimnis aus seiner pädophilen Neigung gemacht. Bereits 2005 wurde er wegen Besitzes von Kinderpornografie verurteilt, durfte jedoch weiterhin als Arzt praktizieren. Dass ein verurteilter Sexualstraftäter über ein Jahrzehnt ungehindert mit Kindern arbeiten konnte, wirft drängende Fragen auf: Wer hat weggeschaut? Wer hätte eingreifen müssen?

Im aktuellen Prozess muss sich Le Scouarnec für 111 Fälle von Vergewaltigung und 189 Fälle von sexuellen Übergriffen verantworten. Angesichts der Schwere der Taten droht ihm eine Höchststrafe von 20 Jahren Haft.

Die Rolle der Krankenhausverwaltung

Eine brisante Frage wird während des Prozesses besonders im Fokus stehen: Hätten die Krankenhäuser seinen Missbrauch verhindern können?

Interne Dokumente, die der Nachrichtenagentur AFP vorliegen, legen nahe, dass leitende Krankenhausverantwortliche bereits 2006 über seine erste Verurteilung informiert waren. Dennoch durfte er weiterhin unbeaufsichtigt arbeiten – eine fatale Entscheidung, die möglicherweise zahlreiche weitere Übergriffe begünstigte.

Am 19. Mai sollen mehrere ehemalige Führungskräfte aus dem Gesundheitswesen vor Gericht aussagen. Ihre Aussagen könnten nicht nur für Le Scouarnec, sondern auch für die Verantwortung von Institutionen von Bedeutung sein.

Der Prozess – ein Mammutverfahren

Die Gerichtsverhandlungen sind streng durchgetaktet:

  • Vom 5. bis 16. Mai werden ehemalige Patienten aus verschiedenen Kliniken, in denen Le Scouarnec tätig war, aussagen.
  • Am 22. bis 28. Mai folgen die Plädoyers der 63 Nebenkläger-Anwälte.
  • Am 2. Juni wird die Anklage ihre Strafmaßforderung präsentieren.
  • Die Verteidigung wird am 3. Juni ihre Argumente vorbringen.
  • Danach zieht sich das Gericht für drei Tage zur Beratung zurück.

Wenn alles nach Plan verläuft, soll das Urteil am 6. Juni verkündet werden.

Ein Prozess mit weitreichenden Folgen

Dieser Fall ist nicht nur für die Opfer von großer Bedeutung, sondern auch für das gesamte französische Gesundheitssystem. Wie konnte es sein, dass ein Mann wie Le Scouarnec so lange unentdeckt blieb? Und welche Konsequenzen werden daraus gezogen, um künftige Fälle zu verhindern?

Während sich die Opfer ihrer schmerzhaften Vergangenheit stellen, hofft Frankreich auf ein gerechtes Urteil – und auf ein System, das in Zukunft wachsamer ist.

Von C. Hatty

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