Die Demonstrationen vom 2. Oktober haben die Schwäche der französischen Gewerkschaften offenbart. Trotz massiver Mobilisierung der Strukturen, trotz eines hoch aufgeladenen sozialen Diskurses, gingen deutlich weniger Menschen auf die Straße. Das Innenministerium sprach von knapp 200 000 Teilnehmern, die Gewerkschaften von 600 000. Entscheidend ist nicht die Differenz, sondern die Richtung: Der Trend zeigt nach unten. Der Streik verliert seine Schlagkraft – und die Bewegung ihre Ausstrahlung.
Doch wer daraus eine politische Entwarnung ableitet, irrt. Frankreich bleibt ein Land, in dem soziale Konflikte jederzeit eruptiv aufflammen können.
Ein Ritual ohne Wirkung
Seit Jahren setzen die Gewerkschaften auf das gleiche Muster: wiederkehrende „Aktionstage“, getragen von den immer gleichen Milieus. Doch diese Strategie ist in die Jahre gekommen. Weder gelingt es, die Proteste in einen politischen Hebel zu übersetzen, noch vermögen sie, eine breitere gesellschaftliche Schicht einzubinden. Das Ritual hat seine Schlagkraft verloren.
Hinzu kommt, dass die Protestthemen zersplittert sind: Haushaltsdisziplin, Steuerlast, Rentenreform, Kaufkraft. Jede Klage ist berechtigt, zusammengenommen aber ergibt sich ein diffuser Katalog – keine zugespitzte Botschaft, kein Symbol, das zur Nation spricht. So verliert der Protest, was ihn in Frankreich stets stark gemacht hat: die Fähigkeit, Wut in eine klare gesellschaftliche Bewegung zu bündeln.
Eine Regierung, die Zeit gewinnt – aber nicht mehr
Für die Regierung ist der Rückgang der Zahlen ein willkommenes Signal. Er verschafft Atem, doch keinen dauerhaften Frieden. Präsident Macron und seine jeweiligen Premierminister haben in den vergangenen Jahren zu oft die Erfahrung gemacht, dass französische Protestbewegungen sehr plötzlich an Wucht gewinnen können. Die Gelbwesten von 2018, die Massendemonstrationen von 2023: Beide entstanden aus einer ähnlichen Gemengelage – latente Wut, politische Arroganz, ein unbedachter Auslöser.
Wer die aktuellen Proteste kleinredet, übersieht diese Logik. Der soziale Frieden in Frankreich ist fragil, er hängt am Vertrauen, gehört und gesehen zu werden. Dieses Vertrauen ist schwach – schwächer als die sinkenden Demonstrationszahlen glauben machen.
Frankreichs paradoxer Zustand
Damit tritt das Land in eine paradoxe Lage ein: Der Protest auf der Straße wird schwächer, die Unruhe nicht. Eine Gesellschaft, die von hohen Preisen, sinkender öffentlicher Versorgung und politischem Misstrauen geprägt ist, bleibt instabil. Die Gewerkschaften verlieren an Glaubwürdigkeit, die Regierung verliert an Legitimität – beide Akteure füllen das Vakuum nicht.
Frankreich hat schon oft bewiesen, dass eine scheinbar erschöpfte Bewegung plötzlich wieder an Kraft gewinnt. Der 2. Oktober mag wie eine Atempause wirken. In Wahrheit ist er ein Symptom dafür, dass die politische Sprengkraft nicht verschwunden, sondern nur vertagt ist.
Autor: P.T.
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