Vor zwei Jahrzehnten erlebte die westliche Welt das, was später als „China-Schock“ bekannt wurde.
Unternehmen in den Vereinigten Staaten und Europa verlagerten ihre Produktion nach China, das faktisch zur Werkbank des Westens wurde. Spielzeug, Kleidung, Elektronik und Autos strömten in einem solchen Tempo aus chinesischen Fabriken in die Industrieländer, dass ganze Wirtschaftszweige kollabierten. Fabriken schlossen, Hunderttausende, wenn nicht Millionen Arbeitsplätze gingen verloren. Die politischen Nachwirkungen sind bis heute spürbar.
Nun zeichnet sich ein zweiter China-Schock ab – mit anderen Vorzeichen. Da chinesische Produkte wegen US-Zöllen vom amerikanischen Markt weitgehend ausgeschlossen sind und die Inlandsnachfrage nicht ausreicht, richtet China seine Exporte verstärkt auf Entwicklungsländer aus. Zudem verlagert es seine Produktionsstätten zunehmend in diese Länder.
Während der erste China-Schock vom Westen weitgehend selbst herbeigeführt wurde – auch wenn manche Entscheidungsträger die Folgen inzwischen bereuen –, vollzieht sich der neue Schock in Staaten, die weit weniger Kontrolle über das Geschehen haben. Im Vergleich zu den Industrieländern sind diese Schwellenländer zudem stärker von der industriellen Fertigung abhängig, um ihr Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten.
Die sozialen Auswirkungen des zweiten China-Schocks dürften daher ebenso tiefgreifend sein wie die des ersten – nur diesmal in anderen Teilen der Welt. Erste Anzeichen dafür werden bereits sichtbar.
Fabrikweltmacht
Schätzungen zufolge haben in den letzten zwei Jahren über 300.000 Menschen in Indonesiens Textil- und Bekleidungsindustrie ihre Arbeit an die chinesische Konkurrenz verloren.
Der Einbruch begann, als preisgünstige chinesische Stoffe und Kleidung in Massen auf den indonesischen Markt strömten. Als im März eine große Fabrik in der Stadt Solo überraschend schloss, standen auf einen Schlag 10.000 Menschen ohne Beschäftigung da.
Auch in Thailand gerieten lokale Unternehmen unter Druck. Die thailändische Zentralbank warnte jüngst vor einer „Überschwemmung durch chinesische Exporte“ nach Thailand und Südostasien. Der Druck habe sich durch Chinas industrielle Überkapazitäten „deutlich verschärft“.
In Afrika erreichten die Importe aus China im September ein Volumen von 60 Milliarden US-Dollar – mehr als im gesamten Jahr 2024.
Am Montag veröffentlichte offizielle Daten bestätigen, was Insider bereits vermutet hatten: Chinas Handelsüberschuss mit der Welt hat 2025 erstmals die Marke von einer Billion US-Dollar überschritten.
„Chinas Exporte wachsen derzeit dreimal so schnell wie der Welthandel insgesamt“, erklärt Brad Setser, Ökonom beim Council on Foreign Relations. Ein solcher Zuwachs sei kaum möglich, ohne dass Fabriken anderswo schließen müssen, so Setser.
Anders als beim ersten China-Schock exportiert China diesmal nicht nur günstige Konsumgüter – es exportiert auch ganze Produktionsstätten. Hintergrund ist unter anderem die Umgehung der von Donald Trump verhängten hohen Zölle auf in China gefertigte Waren.
Diese Entwicklung hatte für einige Länder durchaus positive Seiten. In Vietnam zum Beispiel wirkte sich die Ansiedlung chinesischer Werke bislang überwiegend positiv aus – auch deshalb, weil viele der verlagerten Branchen wie Möbel- und Schuhproduktion arbeitsintensiv sind und lokale Arbeitskräfte benötigen.
Malaysia hingegen illustriert die Risiken, wenn chinesische Industrie zu dominant wird. Die noch junge malaysische Solarbranche wurde von chinesischen Konzernen verdrängt, die riesige Fabriken errichteten und Zehntausende beschäftigten.
Doch dann verhängten die USA Zölle, die sich gezielt gegen chinesische Solarexporte über Südostasien richteten. Die chinesischen Werke wurden stillgelegt – und Malaysias Solarindustrie liegt heute in Trümmern.
Arbeitslosigkeit und Unruhen
Viele Länder, in die China derzeit verstärkt exportiert, erleben einen massiven Abschwung ihrer heimischen Industrie.
Zugleich sind ihre Bevölkerungen im Durchschnitt jung.
Diese Konstellation trägt bereits zu Spannungen bei – etwa in Indonesien, wo junge Demonstrierende ihren Frust über mangelnde berufliche Perspektiven auf die Straße tragen.
„Wenn chinesische Exporte weiterhin in diesem Ausmaß hereinströmen, besteht definitiv das Risiko, dass es vermehrt zu Protesten kommt“, warnt Priyanka Kishore, Ökonomin in Singapur.
In Verbindung mit dem verbreiteten antichinesischen Ressentiment in Südostasien ergibt sich daraus eine explosive Mischung. In vielen Ländern der Region kontrollieren ethnisch chinesische Minderheiten große Teile des wirtschaftlichen Vermögens. Bereits 2014 eskalierte in Vietnam der Zorn auf Chinas Territorialansprüche im Südchinesischen Meer – Tausende wütende Arbeiter legten dabei ausländische Fabriken in Schutt und Asche. In Indonesien kam es 1998 während der Asienkrise zu pogromartigen Ausschreitungen gegen die chinesische Bevölkerungsgruppe.
Vor über zwanzig Jahren hatte der Westen Chinas industrielle Effizienz noch mit offenen Armen empfangen. Die billige Arbeitskraft aus dem Reich der Mitte bescherte westlichen Unternehmen über Jahre hinweg hohe Profite – und eine bis heute spürbare soziale und politische Gegenreaktion.
Daraus können Länder in Südostasien und anderswo Lehren ziehen. Denn im Gegensatz zum Westen haben sie sich den zweiten China-Schock nicht selbst ausgesucht. Aber sie werden ihn trotzdem verkraften müssen.
Viele der Länder, in die China heute verstärkt exportiert, durchlaufen derzeit eine ausgeprägte Schwächephase im verarbeitenden Gewerbe.
Hinzu kommt: In vielen dieser Staaten ist die Bevölkerung jung – ein Umstand, der die sozialen Spannungen zusätzlich anheizt.
Diese Dynamik könnte bereits zu den Unruhen beigetragen haben, die sich zuletzt etwa in Indonesien gezeigt haben, wo junge Demonstrierende ihren Frust über fehlende wirtschaftliche Perspektiven artikulierten.
Menschen versammelt mit Bannern und Fahnen.
Demonstrierende vor dem Parlament in Jakarta, Indonesien, im September.
Foto: Ulet Ifansasti für die New York Times
„Es besteht definitiv das Risiko, dass sich mit dem anhaltenden Zustrom chinesischer Exporte auch die Zahl der Proteste weiter erhöht“, sagte Priyanka Kishore, Ökonomin in Singapur.
Dies ist besonders brisant in Kombination mit dem antichinesischen Sentiment, das in Teilen Südostasiens latent vorhanden ist – auch aufgrund der ökonomischen Dominanz von Unternehmen ethnisch chinesischer Minderheiten. Bereits 2014 brannten in Vietnam Tausende Arbeiter ausländische Fabriken nieder – in Wut über Chinas Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer. In Indonesien kam es während der Asienkrise 1998 zu pogromartigen Ausschreitungen gegen ethnische Chinesen.
Vor über zwei Jahrzehnten begrüßte der Westen noch die Effizienz der chinesischen Produktionsmaschinerie – billige Arbeitskräfte verschafften westlichen Firmen jahrelang hohe Gewinne. Doch die sozialen und politischen Folgen dieses ersten Schocks wirken bis heute nach.
Für die heutigen betroffenen Länder, insbesondere in Südostasien und Afrika, liegt darin eine Lehre. Im Gegensatz zum Westen haben sie sich den zweiten China-Schock nicht selbst eingeladen. Doch sie werden dennoch mit seinen Folgen leben müssen.
Nachrichtenüberblick
Hamas „steht noch“ in Gaza
Seit sich israelische Streitkräfte im Oktober im Rahmen eines Waffenstillstands aus Teilen des Gazastreifens zurückgezogen haben, ist Hamas rasch wieder aktiv geworden und hat Polizeikräfte auf die Straßen geschickt.
Zwar kontrolliert die Organisation heute weniger als die Hälfte des Gazastreifens – der Rest ist von Israel besetzt –, doch konnte sie ihre Macht dennoch erneut etablieren. „Sie stehen noch“, sagte ein ehemaliger hoher Beamter des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. Die schnelle Reorganisierung der Hamas stellt ein erhebliches Hindernis für die US-Pläne dar, ein Gaza ohne Hamas wiederaufzubauen.
Neue Gewaltwelle zwischen Thailand und Kambodscha
Mindestens fünf Menschen kamen ums Leben, Hunderttausende wurden vertrieben, nachdem es an der thailändisch-kambodschanischen Grenze zu neuen Kampfhandlungen gekommen war.
Thailändische Kampfflugzeuge bombardierten am Vortag Ziele in Kambodscha. Das thailändische Militär erklärte, die Luftschläge seien eine Reaktion auf einen kambodschanischen Angriff gewesen, bei dem mindestens ein thailändischer Soldat getötet und acht weitere verletzt wurden. Die Eskalation verdeutlicht, wie tief der Konflikt zwischen den beiden Staaten verwurzelt ist.
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Autor: P. Tiko
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