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Frankreich ist nicht das gefährlichste Land Europas. Doch die Debatte darüber, ob es das sei, hält sich hartnäckig – gespeist von subjektiven Ängsten, politischen Narrativen und vereinfachenden Statistiken. Hinter dieser rhetorischen Aufladung verbirgt sich jedoch ein ernstzunehmendes Symptom: das schwindende Vertrauen in die Fähigkeit des Staates, Ordnung zu garantieren.

In der öffentlichen Diskussion über Sicherheit verschieben sich zunehmend die Maßstäbe. Dass Frankreich bei Online-Rankings wie jenem der Plattform Numbeo regelmäßig als eines der unsichersten Länder Europas erscheint, wird von Medien und Politik mit Vorliebe aufgegriffen – ungeachtet der Tatsache, dass solche Rankings auf freiwilligen und nicht verifizierten Nutzerangaben beruhen. Dass sich Belarus, ein autoritär regiertes Land mit nachweislich repressivem Sicherheitsapparat, in demselben Index sicherer als Frankreich präsentiert, hätte Anlass zur methodischen Skepsis geben müssen. Doch derartige Differenzierungen finden in der hitzigen Debatte kaum Platz.

Objektive Indikatoren zeichnen ein anderes Bild. Die europäischen Vergleichsdaten von Eurostat verorten Frankreich bei der Kriminalitätsbelastung im Mittelfeld. 2023 berichteten 14,7 Prozent der französischen Bevölkerung von Konfrontationen mit Kriminalität oder Vandalismus in ihrem Wohnviertel – weniger als in den Niederlanden oder Griechenland. Auch die Zahl der vorsätzlichen Tötungsdelikte liegt mit 1,34 pro 100.000 Einwohner im europäischen Durchschnitt.

Dennoch lässt sich die Wahrnehmung zunehmender Gewalt nicht allein als Illusion abtun. Denn während Frankreichs Gesamtkriminalitätsrate keine dramatischen Ausschläge aufweist, nehmen spezifische Gewaltformen zu. Körperverletzungen, Sexualdelikte und versuchte Tötungen sind im Steigen begriffen. Besonders gravierend sind Entwicklungen im Bereich des organisierten Drogenhandels: Die Zahl der Gewaltakte im Zusammenhang mit Revierkämpfen hat sich 2023 gegenüber dem Vorjahr um 41 Prozent erhöht. Diese Form der Gewalt ist nicht flächendeckend, aber dort, wo sie auftritt – etwa in Marseille oder Saint-Denis – entfaltet sie ihre desintegrierende Wirkung mit besonderer Wucht.

Entscheidend ist, dass sich die Sicherheitsdebatte nicht mehr allein an objektiven Kennzahlen orientiert. Vielmehr verschiebt sich das Gewicht hin zur subjektiven Unsicherheit – ein Phänomen, das in Frankreich mit bemerkenswerter Intensität auftritt. In strukturell benachteiligten Stadtvierteln fühlt sich mehr als ein Viertel der Bevölkerung nicht mehr sicher. Dieser Befund ist nicht allein das Ergebnis tatsächlicher Gewalterfahrungen, sondern auch Folge medialer Dauerpräsenz von Kriminalitätsberichten und einer Rhetorik, die Ordnung stets als gefährdet beschreibt.

Dass sich aus dieser Gemengelage ein politisches Klima speist, in dem der Ruf nach repressiven Maßnahmen lauter wird, überrascht kaum. Der Diskurs über Sicherheit ist längst zu einem Vehikel politischer Mobilisierung geworden. Rechtspopulistische Akteure nutzen die Thematik, um migrationspolitische Forderungen zu legitimieren. Die politische Mitte sieht sich gezwungen, nach rechts zu rücken, um den Anschluss nicht zu verlieren. Innenpolitische Strategien werden entsprechend verschärft: Polizeioperationen, die demonstrativ Präsenz markieren, werden zum Symbol staatlicher Handlungsfähigkeit – auch wenn ihre strukturelle Wirksamkeit oft begrenzt bleibt.

Dabei ist es kein französisches Spezifikum, dass sich das staatliche Gewaltmonopol gerade in Brennpunkten zunehmend herausgefordert sieht. Doch die französische Republik – mit ihrem republikanischen Selbstverständnis als Garant der Gleichheit – tut sich besonders schwer mit der Anerkennung, dass diese Gleichheit in der gelebten Realität nicht mehr flächendeckend existiert. Die Sicherheitsfrage wird dadurch zur Frage nach dem sozialen Zusammenhalt, der in Teilen der Gesellschaft brüchig geworden ist.

Frankreich ist nicht das gewalttätigste Land Europas. Doch es ist ein Land, in dem sich die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren staatlicher Institutionen besonders deutlich artikuliert. Das erklärt die emotionale Wucht, mit der Sicherheitsfragen verhandelt werden. Wer in dieser Debatte Verantwortung übernehmen will, muss beides anerkennen: die statistische Realität ebenso wie das legitime Empfinden von Unsicherheit. Die Herausforderung besteht darin, nicht der Dramatisierung nachzugeben, sondern Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Rechtsstaats zurückzugewinnen – durch Präzision in der Analyse und Konsequenz in der Umsetzung.

P.T.

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