Tag & Nacht


Basel an einem kalten Winterabend.

Die Lichter spiegeln sich im Rhein, irgendwo klappert eine Straßenbahn, und zwischen den alten Fassaden liegt dieses leise Versprechen von Geschichten, die nur darauf warten, wieder erzählt zu werden.

Genau hier setzt „Die vergessene Legende von Basel“ an.

Vom 9. Januar bis zum 18. Februar 2026 verwandelt sich die Offene Kirche Elisabethen in einen Ort, an dem Zeit keine feste Größe mehr kennt. Damien Fontaine, international gefeierter Regisseur und Meister immersiver Erzählkunst, hebt mit diesem Werk nicht nur den Kirchenraum aus den Angeln, sondern auch die Vorstellung davon, was Theater, Installation und Poesie gemeinsam leisten.

Und ja – Basel erlebt gerade etwas ziemlich Besonderes.

Ein Raum, der plötzlich atmet.

Die Offene Kirche Elisabethen steht sonst für Stille, für Nachhall, für Kerzenlicht. Doch an diesen Abenden pulsiert sie. Mehr als 200 Lichtquellen tanzen über Stein und Gewölbe, 20 Hochleistungsprojektoren weben Bilder in die Architektur, während eine fein abgestimmte Mehrpunkt-Soundanlage jede Bewegung, jeden Atemzug begleitet.

Man betritt den Raum – und ist mittendrin.

Nicht Zuschauer, sondern Teil eines lebendigen Traums.

Hologramme schweben durch die Luft, Akrobatinnen gleiten scheinbar schwerelos unter der Decke, Schatten lösen sich von ihren Körpern und erzählen weiter. Basel wird nicht erklärt, Basel wird gefühlt.

Wer hätte gedacht, dass eine Kirche so flüstern kann?

Im Zentrum dieser flüsternden Welt stehen Christoph und Margaret.

Zwei Figuren, die wirken, als seien sie direkt aus einem alten Tagebuch gestiegen. Ihre Geschichte spielt im Jahr 1816, dem berüchtigten „Jahr ohne Sommer“. Ernteausfälle, Kälte, Hunger – eine Stadt im Ausnahmezustand. Fontaine greift diesen historischen Moment auf und verbindet ihn mit einer der ältesten und rätselhaftesten Figuren Basels: dem Basilisken.

Doch hier erscheint er nicht als bloßes Monster aus Stein.

Er wird zum Spiegel.

Zum Symbol für Angst, Hoffnung und die Kraft von Legenden, die Generationen überdauern. Christoph und Margaret kämpfen nicht nur gegen äußere Umstände, sondern gegen Zweifel, Verlust und dieses leise Gefühl, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Klingt vertraut? Eben.

Geschichte trifft Gegenwart – ganz ohne erhobenen Zeigefinger.

Fontaine erzählt nicht linear. Er liebt Brüche, Andeutungen, Bilder, die sich überlagern. Mal steht man mitten im Schneesturm von 1816, mal in einem poetischen Zwischenraum, in dem Zeit nur eine Idee darstellt. Der geheimnisvolle Zeitenregler – dargestellt von einem leuchtenden Stelzenläufer – wandelt zwischen den Ebenen, als wolle er sagen: Alles geschieht gleichzeitig.

Und plötzlich fragt man sich selbst: In welcher Zeit stehe ich eigentlich gerade?

Diese Frage hängt lange im Raum.

Ein besonderes Kapitel dieses Spektakels gehört den Luftkünstlerinnen und Luftkünstlern von Les Passagers. Ihre Akrobatik wirkt nicht wie eine Nummer, sondern wie ein fliegender Gedanke. Körper lösen sich vom Boden, drehen sich um unsichtbare Achsen, verschmelzen mit Licht und Klang.

Man schaut nach oben – und vergisst kurz, wie Schwerkraft funktioniert.

Dazu gesellen sich die poetischen Drachengestalten von Ventil’oh. Keine lärmenden Fantasiewesen, sondern fragile, atmende Figuren, die durch den Raum gleiten, fast schüchtern. Sie wirken wie Erinnerungen, die plötzlich Gestalt annehmen.

Und dann diese Kostüme.

Marie Jo Gébel, international gefeierte Designerin, kleidet die Figuren nicht einfach ein. Sie erzählt mit Stoff, mit Texturen, mit Bewegung. Die Gewänder reagieren auf Licht, verändern ihre Wirkung je nach Perspektive. Mal mittelalterlich, mal zeitlos, mal so modern, dass man kurz glaubt, in der Zukunft zu stehen.

Das Auge kommt kaum hinterher – im besten Sinne.

Damien Fontaine weiß genau, was er tut.

Seine Werke lockten bereits über 15 Millionen Besucherinnen und Besucher weltweit an. Frankreich, Südamerika, Mittlerer Osten – überall hinterließ er Staunen, offene Münder, dieses besondere Gefühl, gerade etwas Einmaliges erlebt zu haben. Mit „Die vergessene Legende von Basel“ bringt er erstmals eines seiner großen Indoor Spektakel in die Schweiz.

Und das merkt man.

Hier stimmt jedes Detail. Die Technik drängt sich nicht auf, sondern dient der Erzählung. Licht wird zu Emotion, Klang zu Raum, Bewegung zu Sprache. Nichts wirkt zufällig, nichts überladen.

Es fühlt sich an, als hätte jemand Basel selbst gefragt, welche Geschichte sie erzählen möchte.

Zwischendurch passiert etwas Eigenartiges.

Man steht da, umgeben von Menschen, und trotzdem fühlt sich alles sehr persönlich an. Vielleicht liegt es an der Nähe der Darsteller, vielleicht an der offenen Raumstruktur. Oder an dieser stillen Melancholie, die durch das Stück zieht wie ein unsichtbarer Faden.

Man denkt an eigene Winter. An Zeiten ohne Sommer.

An Tage, an denen Hoffnung klein wirkte.

Und dann wieder groß.

Fontaine arbeitet viel mit Kontrasten. Dunkelheit und gleißendes Licht. Stille und donnernder Klang. Historische Fakten und freie Poesie. Diese Mischung verleiht dem Spektakel Tiefe. Es will nicht gefallen um jeden Preis, sondern berühren. Manchmal auch irritieren.

Ist das nicht genau das, was gute Kunst leisten soll?

Die Offene Kirche Elisabethen spielt dabei eine Hauptrolle. Ihre Architektur wird nicht bloß Kulisse, sondern Erzählerin. Säulen verwandeln sich in Zeitachsen, Gewölbe in Himmel, der Boden in fließende Erinnerung. Man bewegt sich durch den Raum, folgt Blicken, Geräuschen, Impulsen.

Kein fester Sitzplatz, keine starre Perspektive.

Jeder Abend verläuft ein wenig anders, je nachdem, wo man steht, wohin man schaut, wem man folgt. Das macht jede Vorstellung einzigartig. Man könnte zweimal kommen – und zwei völlig verschiedene Erlebnisse mitnehmen.

Apropos mitnehmen.

Nach dem Verlassen der Kirche bleibt etwas zurück. Kein lauter Applaus im Kopf, sondern ein leiser Nachhall. Fragen tauchen auf. Gedanken wandern. Gespräche beginnen draußen vor der Tür, während der Atem in der Winterluft sichtbar wird.

„Hast du das gesehen?“
„Wie haben sie das gemacht?“
„Was glaubst du, wofür der Basilisk wirklich stand?“

Genau diese Gespräche machen Kultur lebendig.

Basel zeigt mit diesem Projekt Mut. Mut, Geschichte neu zu erzählen. Mut, einen sakralen Raum anders zu denken. Mut, einem internationalen Künstler Vertrauen zu schenken – und gleichzeitig der eigenen Legende.

Denn die Geschichte vom Basilisken gehört zu Basel wie der Rhein und das Münster. Fontaine nimmt sie ernst, ohne sie festzunageln. Er lässt Raum für Interpretation, für Fantasie, für Zweifel.

Man spürt Respekt. Und Spielfreude.

Zwischendurch blitzt sogar Humor auf – kleine Momente, ein schelmischer Blick, eine überraschende Wendung. Nicht viel, aber genug, um die Schwere zu brechen. Schließlich erzählt diese Legende nicht nur von Leid, sondern auch von Überlebenswillen.

Und vielleicht auch von Liebe.

Christoph und Margaret stehen dafür. Ihre Beziehung wirkt zerbrechlich, aber ehrlich. Keine große Hollywood Geste, sondern Nähe im Kleinen. Ein Griff nach der Hand. Ein gemeinsamer Blick. Inmitten von Chaos und Kälte wächst etwas Zartes.

Das geht unter die Haut.

Wer dieses Spektakel besucht, braucht keine Vorkenntnisse. Keine Angst vor Kunst. Keine historischen Details im Kopf. Offenheit reicht völlig. Der Rest ergibt sich – Schritt für Schritt, Bild für Bild.

Und ja, manchmal fühlt man sich kurz verloren.

Aber ist das nicht Teil der Reise?

„Die vergessene Legende von Basel“ ist kein Event zum schnellen Konsum. Es lädt zum Verweilen ein. Zum Schauen. Zum Lauschen. Zum Spüren. In einer Zeit, in der vieles laut und hektisch wirkt, schafft Fontaine einen Raum der Konzentration.

Fast wie ein kollektiver Atemzug.

Vielleicht liegt genau darin die Kraft dieses Abends. Er erinnert daran, dass Geschichten uns verbinden. Über Jahrhunderte hinweg. Über Krisen hinweg. Über Generationen hinweg.

Basel hat diese Geschichte lange getragen.

Jetzt erzählt sie sich selbst neu.

Und wer zuhört, hört vielleicht auch ein Stück von sich.

Ein Artikel von M. Legrand

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Praktische Informationen
9. Januar – 18. Februar 2026
Offene Kirche Elisabethen, Elisabethenstrasse 14, CH-4051 Basel
Dauer: ca. 1 Stunde | Empfohlen ab 6 Jahren
Täglich 3-4 Vorstellungen, insgesamt 125 Shows
Alle Informationen und Tickets: https://vergessene-legende.ch/

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