Ein kalter Wind weht über die flachen Ebenen bei Dunkerque. Möwen kreisen, Containerschiffe ziehen gemächlich vorbei, und irgendwo zwischen Hafenkränen, Deichen und alten Industrieflächen wächst etwas heran, das Frankreichs Autowelt neu sortieren soll. Hier, wo früher Stahl, Kohle und Diesel dominierten, rückt nun ein anderes Herzstück der Industrie in den Mittelpunkt: die Batterie. Genauer gesagt die Vallée de la batterie – ein Projekt, das klingt wie ein Marketingbegriff, sich aber längst als handfeste Realität entpuppt.
Noch vor wenigen Jahren herrschte in der regionalen Automobilbranche eher Katerstimmung. Die Dieselkrise traf die Zulieferer hart, internationale Konkurrenz drückte die Margen, ganze Belegschaften fragten sich, wie lange das alles noch gutgehen würde. Heute dagegen liegt Aufbruch in der Luft. Nicht überall euphorisch, nicht ohne Zweifel – aber spürbar.
Und manchmal reicht schon ein einziges Gebäude, um einen Stimmungswechsel greifbar zu machen.
Im Dezember 2025 öffnete in Bourbourg, nur ein paar Autominuten von Dunkerque entfernt, eine Fabrik ihre Tore, die größer denkt als viele vor ihr. Verkor, ein junges Unternehmen aus Grenoble, hat hier seine erste Gigafactory eingeweiht. Keine PR Kulisse, kein Luftschloss, sondern Beton, Stahl, Maschinen und Menschen. Über tausend Arbeitsplätze direkt, noch mehr indirekt. Investitionen von rund 1,5 Milliarden Euro. Zahlen, die man nicht einfach so vom Tisch wischt.
Wer durch die Hallen geht, merkt schnell: Hier entsteht kein gewöhnliches Produkt. Batteriezellen für Elektroautos gelten als das neue Öl der Industrie. Ohne sie funktioniert kein E-Fahrzeug, egal wie schick das Design oder wie clever die Software. Und genau darin liegt die strategische Sprengkraft dieses Standorts.
Europa, so die bittere Erkenntnis der letzten Jahre, hängt bei Batterien stark von Asien ab. China, Südkorea, Japan – dort sitzen die Platzhirsche. Die Vallée de la batterie will diese Abhängigkeit lockern. Nicht über Nacht, klar. Aber Schritt für Schritt, Zelle für Zelle.
Verkor plant ambitioniert. Ab 2026 rollen die ersten kommerziellen Lieferungen an. Bis 2028 sollen 16 Gigawattstunden Jahreskapazität erreicht sein, später sogar bis zu 50. Das klingt abstrakt, ist aber konkret: Hunderttausende Fahrzeuge, die mit Batterien aus nordfranzösischer Produktion fahren könnten. Renault, Anteilseigner und gleichzeitig Hauptkunde, hält sich nicht zurück. Künftige Elektro Modelle, Nutzfahrzeuge, leistungsstarke Varianten mit geringem CO₂ Fußabdruck – vieles soll aus Batterien aus Bourbourg gespeist werden.
Natürlich steht Verkor nicht allein auf weiter Flur. Die Region gleicht inzwischen einem industriellen Schachbrett. In Douvrin produziert ACC, getragen von Stellantis, Mercedes Benz und TotalEnergies. In Douai bereitet AESC Envision den Aufbau vor. Und dann ist da noch ProLogium aus Taiwan, das ab 2027 im Raum Dunkerque eine weitere Gigafactory hochziehen will. Größer, schneller, technologisch anders aufgestellt.
Manch einer fragt sich leise: Wird das nicht zu viel des Guten?
Die Antwort fällt nicht eindeutig aus. Einerseits entsteht hier eine industrielle Dichte, wie man sie in Europa lange vermisst hat. Know how, Zulieferer, Logistik, Fachkräfte – alles rückt zusammen. Andererseits bleibt der Markt volatil. Elektroautos verkaufen sich nicht automatisch von selbst. Förderungen schwanken, Kunden zögern, Strompreise nerven. Und Batterietechnik gilt als unforgiving business: Kleine Fehler, große Verluste.
Doch die Vision der Vallée de la batterie reicht über das reine Produzieren hinaus. Es geht um eine komplette Wertschöpfungskette. Forschung und Entwicklung, aktive Kathodenmaterialien, Recycling, Logistik, Weiterbildung. Firmen wie Orano XTC New Energy setzen auf Materialien, andere auf Wiederverwertung alter Batterien. Ein Kreislauf, der Ressourcen schont und Abhängigkeiten mindert.
Für die Politik klingt das wie Musik in den Ohren. Frankreich und die EU sprechen gern von industrieller Souveränität. Von strategischer Autonomie. Von grüner Transformation, die Arbeitsplätze schafft statt vernichtet. Und ja – selten passten diese Begriffe so gut zu einem Projekt wie hier im Norden.
Die Batterie wird zum geopolitischen Faktor. Wer sie kontrolliert, kontrolliert einen Großteil der Mobilität von morgen. Und Mobilität, das zeigt ein Blick in die Geschichte, bedeutet immer auch Macht, Wohlstand, Einfluss.
Doch ganz ohne Reibung läuft diese Transformation nicht ab. Hinter den Kulissen brodelt eine Debatte, die immer wieder aufflammt: das EU Verbot für neue Verbrenner ab 2035. Kritiker warnen vor Überforderung des Marktes. Zu wenig Ladeinfrastruktur, zu teure Fahrzeuge, unsichere Rohstoffversorgung. Befürworter halten dagegen: Wer jetzt bremst, verspielt Milliardeninvestitionen und technologische Führungsansprüche.
In Bourbourg klingt diese Diskussion erstaunlich bodenständig. Ein Ingenieur, Kaffeebecher in der Hand, sagt sinngemäß: „Wenn die Politik wackelt, wackeln wir alle. Aber ohne Ziel fährt man eben auch nicht los.“ Ein Satz, der trifft.
Denn tatsächlich basiert die gesamte Vallée de la batterie auf Planungssicherheit. Auf dem Glauben, dass Elektromobilität kein kurzfristiger Trend bleibt, sondern der neue Normalzustand. Ein Risiko? Ja. Aber welches Industrieprojekt dieser Größe kommt ohne aus?
Zwischen all den Gigawattstunden, Investitionssummen und Strategiepapiere taucht immer wieder eine menschliche Ebene auf. Ehemalige Arbeiter aus der klassischen Autozulieferung, die nun Schulungen für Batterietechnik absolvieren. Junge Absolvent:innen, die lieber in Dunkerque als in Shanghai oder Kalifornien an der Zukunft schrauben. Kommunen, die neue Steuereinnahmen wittern – und zugleich bezahlbaren Wohnraum organisieren müssen.
Es sind diese kleinen Geschichten, die dem großen Projekt Tiefe verleihen. Und auch Zweifel. Was passiert, wenn sich eine neue Batterietechnologie durchsetzt, die heutige Anlagen alt aussehen lässt? Was, wenn Wasserstoff plötzlich doch den Durchbruch schafft? Oder synthetische Kraftstoffe politisch Rückenwind bekommen?
Fragen über Fragen. Und genau darin liegt vielleicht die ehrlichste Stärke der Vallée de la batterie: Sie behauptet nicht, alle Antworten zu kennen. Sie setzt auf Bewegung statt Stillstand.
Die Landschaft bei Dunkerque verändert sich sichtbar. Wo früher Brachflächen lagen, stehen nun Hallen mit hochautomatisierten Produktionslinien. LKWs rollen, Schichtpläne füllen sich, Cafés in den umliegenden Orten bekommen neue Stammgäste. Nicht glamourös, aber real. Industrie im 21. Jahrhundert eben.
Ein älterer Anwohner bringt es beim Bäcker auf den Punkt: „Hauptsache, hier passiert wieder was.“ Ein Satz aus der Umgangssprache, aber treffend. Denn Stillstand galt lange als größte Angst dieser Region.
Bleibt die Frage, ob sich all das auszahlt. Ob Europa tatsächlich den Rückstand aufholt. Ob Elektroautos den Massenmarkt erobern, ohne soziale Spaltungen zu vertiefen. Und ob die Vallée de la batterie in zehn, zwanzig Jahren als Erfolgsgeschichte gilt – oder als mutiges Experiment.
Wer heute durch Bourbourg fährt, spürt zumindest eines: Hier glaubt man an die Zukunft. Nicht blind, nicht naiv, sondern mit Ärmel hochgekrempelt und Blick nach vorn. Vielleicht gehört genau das zur DNA dieses Projekts.
Die Autos von morgen fahren leise. Aber der industrielle Umbruch dahinter macht ordentlich Lärm. Und dieser Lärm kommt derzeit ganz klar aus dem Norden Frankreichs.
Ein Artikel von M. Legrand
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!









