Das jüngste russische Bombardement auf die ostukrainische Stadt Dnipro hat nicht nur Todesopfer und Zerstörung hinterlassen – es hat auch eine politische Illusion hinweggefegt. Vier Menschen starben, mehr als zwanzig wurden verletzt, als eine Welle von Drohnen die Stadt erschütterte. Und mit jeder Explosion wurde deutlicher, wie brüchig und zweideutig das Konzept eines Waffenstillstands im gegenwärtigen Krieg ist. Für viele Ukrainer ist klar: Was unter dem Titel „Deeskalation“ verhandelt wurde, hat im Alltag keinerlei Substanz.
Schon der Kontext der Angriffe verweist auf ein tieferliegendes Problem. Russland und die Ukraine hatten sich – jeweils im bilateralen Austausch mit den Vereinigten Staaten – auf eine temporäre Feuerpause verständigt. Der Deal sah vor, dass keine Angriffe auf kritische Energieinfrastrukturen erfolgen sollten, insbesondere auf Anlagen am Schwarzen Meer. Doch in der Interpretation der Vereinbarung lagen Welten zwischen den Parteien. Während Kiew sich um eine umfassende Zurückhaltung bemühte, nutzte Moskau das Abkommen offenbar, um gezielt Lücken auszutesten – und zivile Ziele unterhalb der formellen Schwelle der Vereinbarung weiter ins Visier zu nehmen.
Der Angriff auf ein beliebtes Restaurant am Flussufer von Dnipro, das in Flammen aufging, war nur das sichtbarste Zeichen dieser Strategie. In der gleichen Nacht wurden auch Wohnhäuser, ein Hotel, mehrere Apartments und ein ganzes Stadtviertel getroffen. Unter den Verletzten ist auch eine schwangere Frau. In den Augen vieler Einwohner war dies ein demonstratives Signal: Russland lässt sich nicht durch diplomatische Formeln binden, solange es militärisch die Initiative behält.
Die politische Rhetorik folgt einem altbekannten Muster. Der Kreml spricht von einem Rückschlag, wenn ukrainische Drohnen russische Ziele treffen, gleichzeitig aber scheint es kein Problem zu sein, wenn man selbst mitten in der Nacht hunderte Drohnen auf ukrainische Städte schickt. Dass Moskau das Abkommen mit Bedingungen wie der Aufhebung westlicher Sanktionen verknüpft, zeugt von einem instrumentellen Umgang mit der Diplomatie. Es geht nicht um den Aufbau gegenseitigen Vertrauens – es geht um taktische Vorteile und propagandistische Deutungshoheit.
Präsident Selenskyj versucht, sich in dieser Lage auf einem schmalen Grat zu bewegen. Einerseits will er die Unterstützung Washingtons nicht gefährden, andererseits muss er seinem Land erklären, warum Vereinbarungen mit einem Aggressor, der wiederholt gegen alle Regeln des Kriegsrechts verstößt, überhaupt geschlossen werden. Dass die USA den Waffenstillstand zunächst als Erfolg verbuchten, unterstreicht das Dilemma westlicher Politik: Der Wunsch nach Stabilität trifft auf einen Gegner, der systematisch Instabilität als strategisches Mittel nutzt.
Hinzu kommt die innenpolitische Dimension. Viele Ukrainer empfinden die derzeitige Lage als zermürbend – ein Zustand zwischen Hoffnung auf Frieden und täglichem Ausnahmezustand. Die wiederholten Angriffe auf zivile Infrastruktur, auf Wohnhäuser, Cafés, kulturelle Orte des Alltagslebens, haben nicht nur körperliche, sondern auch psychologische Spuren hinterlassen. Für einen Großteil der Bevölkerung wird jede vermeintliche Entspannung der Lage sofort von neuen Explosionen konterkariert. Der Waffenstillstand, so wie er derzeit besteht, bietet keine Sicherheit, sondern schafft neue Unsicherheit.
Besonders bitter ist, dass ausgerechnet das Versprechen auf Frieden zur Quelle neuer Enttäuschung wird. Der Angriff in Dnipro hat viele Ukrainer daran erinnert, dass es keine einfache Lösung geben wird – und dass das Vertrauen in Verhandlungen mit Putin mittlerweile nahezu vollständig erodiert ist. Die Vorstellung, dass eine Vereinbarung mit Moskau auch nur temporär Frieden bringen könnte, erscheint vor dem Hintergrund der letzten Tage naiv. Viele Stimmen in der Ukraine fordern nun eine offenere Diskussion darüber, ob man den Krieg nicht ehrlicher als das benennen sollte, was er ist: ein langwieriger, von Moskau gewollter Abnutzungskrieg ohne Aussicht auf baldige Entspannung.
Auch geopolitisch ist die Situation brisant. Die Vereinigten Staaten stehen unter innenpolitischem Druck, den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen, während sie zugleich versuchen, mit diplomatischen Mitteln eine Stabilisierung zu erreichen. Doch jeder russische Angriff wie der auf Dnipro untergräbt dieses Narrativ und stellt die westliche Strategie in Frage. Für Kiew ist das eine paradoxe Lage: Man muss sich westliche Unterstützung sichern, ohne dabei zu offen auszusprechen, dass man der Strategie der Unterstützer wenig zutraut.
Die Geschichte von Stas Smirnov, einem Bewohner Dnipros, der beim Angriff sein Haus verlor und nur durch Zufall überlebte, bringt das Dilemma auf eine persönliche Ebene. Sein Haus brannte nieder, sein Wachmann starb, sein fünf Monate alter Kater überlebte nur knapp im Rauch der Trümmer. Für ihn – wie für viele andere – bleibt am Ende nur das Bewusstsein, dass in diesem Krieg das Private nie vom Politischen zu trennen ist.
Die Angriffe auf Dnipro markieren daher mehr als nur eine weitere Eskalation in einem bereits grausamen Krieg. Sie sind ein Fanal dafür, wie tief das Misstrauen sitzt, wie begrenzt die Wirkung diplomatischer Appelle ist – und wie weit der Weg zu einem echten, tragfähigen Frieden noch ist. Der Waffenstillstand war bestenfalls ein politisches Manöver, schlimmstenfalls eine Falle.
P.T.
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