Während die Vereinten Nationen jährlich im Oktober mit der „Abrüstungswoche“ zu einem verantwortungsvollen Umgang mit militärischer Macht und zur Reduktion von Rüstungsgütern aufrufen, zeichnet sich auf dem europäischen Kontinent eine gegenteilige Entwicklung ab. Die sicherheitspolitische Lage seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat eine Rüstungsdynamik ausgelöst, wie sie Europa seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gesehen hat. Zwischen dem normativen Ideal globaler Abrüstung und dem realpolitischen Zwang zur Abschreckung tut sich ein Spannungsfeld auf, das die sicherheitspolitische Identität Europas neu definiert.
Symbolik der Abrüstungswoche
Die von der UNO ins Leben gerufene Abrüstungswoche ist in ihrer Intention ebenso ehrenwert wie notwendig. Sie soll Staaten an ihre Verpflichtung erinnern, Rüstungskontrolle und Abrüstung als Teil einer friedensfördernden internationalen Ordnung zu begreifen – nicht zuletzt im nuklearen Bereich. Dabei steht nicht nur das Ziel der vollständigen Abrüstung im Raum, sondern auch die Förderung vertrauensbildender Maßnahmen, Rüstungstransparenz und eine Kultur der Kooperation.
In einem historischen Rückblick lässt sich feststellen, dass Abrüstung immer dann Fortschritte machte, wenn Staaten ein Mindestmaß an Vertrauen und ein gemeinsames Sicherheitsverständnis teilten – etwa in der Phase der Entspannungspolitik in den 1970er- und 1980er-Jahren. Derzeit jedoch ist die globale Sicherheitsarchitektur von Misstrauen, geopolitischer Rivalität und nationalem Risikomanagement geprägt. Die normative Strahlkraft der Abrüstungswoche wird in dieser Lage leicht überstrahlt von den harten Notwendigkeiten strategischer Selbstbehauptung.
Die neue Aufrüstung Europas
Insbesondere Europa befindet sich in einem fundamentalen Paradigmenwechsel. Jahrzehntelang hatte man sich auf das transatlantische Sicherheitsversprechen der NATO verlassen und auf eine Friedensdividende nach dem Kalten Krieg gehofft. Der Krieg in der Ukraine hat diese Illusion zerschlagen. Seither investieren zahlreiche europäische Staaten massiv in ihre Verteidigungsfähigkeiten. Deutschland etwa hat ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr aufgesetzt, Polen strebt den Aufbau der größten Landstreitkräfte in Europa an, und in Skandinavien wie im Baltikum wird die militärische Infrastruktur systematisch ausgebaut.
Diese Entwicklung ist nicht isoliert zu betrachten. Die russische Führung hat deutlich gemacht, dass sie militärische Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung geopolitischer Interessen ansieht. Die wiederholte Drohung mit dem Einsatz nuklearer Waffen, die Stationierung neuer Raketensysteme im europäischen Teil Russlands sowie die bewusste Aufkündigung bestehender Abrüstungsverträge zeigen: Moskau strebt nicht Entspannung, sondern strategische Dominanz an – zumindest im unmittelbaren Umfeld.
Abschreckung als neue Leitkategorie
Vor diesem Hintergrund erfährt das sicherheitspolitische Konzept der Abschreckung eine Renaissance. Was jahrzehntelang als Kalter-Krieg-Rhetorik galt, wird nun wieder zur realpolitischen Notwendigkeit. Abschreckung bedeutet dabei nicht nur nukleares Gleichgewicht, sondern auch konventionelle Verteidigungsbereitschaft, robuste Bündnissysteme und glaubwürdige Reaktionsfähigkeit. Die NATO hat sich entsprechend neu ausgerichtet und ihre Präsenz an der Ostflanke deutlich verstärkt.
Gleichzeitig wächst die Gefahr einer neuen Rüstungsspirale. Ohne funktionierende Kontrollmechanismen und gegenseitige Rückversicherung droht eine Eskalationsdynamik, die Vertrauen weiter untergräbt. Die Erfahrung des Kalten Krieges lehrt, dass Rüstung ohne flankierende diplomatische Prozesse zu Instabilität führt – auch dann, wenn sie der Verteidigung dient.
Europas sicherheitspolitische Verantwortung
Die eigentliche Herausforderung besteht für Europa darin, zwischen Abschreckung und Abrüstung eine tragfähige Balance zu finden. Aufrüstung als reflexhafte Reaktion auf Bedrohung kann kurzfristig notwendig sein – doch ohne eine langfristige Strategie der Deeskalation verliert sie an Legitimität. Europas Stärke lag stets in der Verknüpfung von Macht und Norm, von Verteidigungsfähigkeit und wertebasierter Außenpolitik. Es gilt nun, diese Doppelstrategie neu zu kalibrieren.
Dazu gehört erstens, die verbliebenen Strukturen der Rüstungskontrolle nicht nur zu erhalten, sondern aktiv weiterzuentwickeln – auch wenn Russland derzeit wenig Bereitschaft zeigt, an einem neuen Regelwerk mitzuwirken. Zweitens muss Europa seine außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit eigenständig stärken, um im globalen Machtgefüge nicht zum Spielball zu werden. Und drittens darf die zivile Dimension der Sicherheit – Resilienz, Diplomatie, wirtschaftliche Stabilität – nicht dem Primat des Militärischen geopfert werden.
Abrüstung ist in der gegenwärtigen Lage kein naiver Wunsch, sondern ein strategisches Ziel, das langfristig Stabilität sichern kann. Die UN-Abrüstungswoche erinnert uns daran – nicht als politischer Appell, sondern als Mahnung zur Selbstvergewisserung: Frieden entsteht nicht allein durch Rüstung, sondern durch Regeln, Vertrauen und Dialog. Genau das aber ist in Europa heute gefährdeter denn je.
Autor: P. Tiko
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