Tag & Nacht


Frankreich feiert dieser Tage ein symbolträchtiges Jubiläum: 120 Jahre ist es her, dass das Gesetz vom 9. Dezember 1905 verabschiedet wurde – jenes Gesetz, das die Trennung von Kirche und Staat kodifizierte und damit die Grundlage für den französischen Laizismus legte. In der politischen Selbstbeschreibung der Fünften Republik gilt die laïcité als unerschütterlicher Pfeiler des republikanischen Konsenses. Doch was als emanzipatorischer Bruch mit einer über Jahrhunderte dominanten katholischen Ordnung begann, ist im 21. Jahrhundert zum Gegenstand politischer Instrumentalisierung und gesellschaftlicher Verunsicherung geworden.

Die historische Leistung des Gesetzes ist unbestritten. Es entzog den Religionsgemeinschaften die öffentliche Finanzierung und sicherte gleichzeitig das Recht jedes Einzelnen, seine religiösen Überzeugungen frei auszuüben. In der Rückschau erscheint das Gesetz als spätes, aber klares Resultat der Prinzipien von 1789 – ein demokratischer Ordnungsrahmen, der dem Staat weltanschauliche Neutralität auferlegt und damit erst die Voraussetzung für religiöse Vielfalt schafft.

Doch in der heutigen Debatte ist von dieser Doppelbewegung – Trennung und Freiheit – oft nur noch die restriktive Seite präsent. Der französische Laizismus, einst gedacht als Garant für Toleranz, wird zunehmend als Vehikel zur Disziplinierung religiöser Sichtbarkeit verstanden. Dies zeigt sich exemplarisch in der staatlichen Praxis gegenüber muslimischen Bürgerinnen und Bürgern, deren religiöse Ausdrucksformen – etwa das Tragen eines Kopftuchs – nicht selten als Provokation oder gar als Gefahr für die öffentliche Ordnung gewertet werden. Der französische Staat beansprucht Neutralität, agiert jedoch häufig wie ein weltanschaulicher Akteur.

Darin liegt eine gefährliche Verschiebung: Die laïcité wird nicht mehr als schützendes Prinzip, sondern als identitätspolitische Waffe eingesetzt – zur Abgrenzung eines vermeintlich homogenen republikanischen Selbst gegen das „Andere“. Gerade in Zeiten erhöhter Migrationsbewegungen und wachsender gesellschaftlicher Fragmentierung wäre jedoch das Gegenteil nötig: ein offener, zugleich selbstbewusster Umgang mit religiöser Pluralität.

Die Herausforderungen sind real. Die Gesellschaft ist komplexer, durchlässiger, konfliktreicher geworden. Umso wichtiger wäre es, das laizistische Prinzip nicht als Bollwerk zu begreifen, sondern als Gestaltungsrahmen für ein säkulares Miteinander. Neutralität bedeutet eben nicht Abwehr des Religiösen, sondern gleiche Freiheit für alle Glaubensrichtungen – unter dem Dach einer gemeinsamen republikanischen Ordnung.

Frankreich tut gut daran, sich zum 120. Jubiläum seines Trennungsgesetzes nicht in ritualisierter Selbstvergewisserung zu verlieren. Die laïcité ist kein museales Relikt, sondern ein dynamisches Prinzip, das stets neu verhandelt werden muss – mit juristischer Sorgfalt, gesellschaftlichem Augenmaß und ohne ideologische Verhärtung. Ihr Fortbestehen hängt davon ab, ob es gelingt, sie aus der Enge parteipolitischer Debatten zu lösen und zurückzuführen auf ihren ursprünglichen Sinn: die Freiheit des Einzelnen und die Gleichheit vor dem Gesetz, unabhängig von Herkunft, Glaube oder Weltanschauung.

Von Andreas Brucker

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