Manchmal sind es gerade die Widersprüche, in denen sich die Wahrheit über eine Gesellschaft zeigt. Frankreich investiert Milliarden in seine militärische Aufrüstung, rüstet gleichzeitig seine Industrie für die Energiewende um – und muss dennoch mit ansehen, wie die eigene Schwerindustrie Arbeitsplätze abbaut und ganze Standorte ins Wanken geraten. Im Zentrum dieser politischen und wirtschaftlichen Spannungen steht ein Unternehmen, das symbolisch für Europas industrielle Kraft steht und zugleich deren Fragilität offenbart: ArcelorMittal.
Die Rückkehr der Industriepolitik – mit ungleichen Vorzeichen
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich das sicherheitspolitische Denken in Frankreich – und in Europa – spürbar verändert. Der lange Zeit stiefmütterlich behandelte Verteidigungssektor erlebt eine Renaissance. Panzerschmieden, Munitionsfabriken und Waffentechnologie stehen plötzlich wieder im Mittelpunkt strategischer Planungen. Was viele dabei übersehen: Ohne Stahl keine Panzer, keine Kriegsschiffe, keine Waffen. Stahl ist nicht nur eine industrielle, sondern längst wieder eine geopolitische Ressource geworden.
Frankreichs Regierung hat diese Zusammenhänge erkannt – zumindest in ihrer Rhetorik. Mit rund 850 Millionen Euro unterstützt der Staat die Dekarbonisierungspläne von ArcelorMittal in Dunkerque und Fos-sur-Mer. Offiziell geht es um den Klimaschutz, inoffiziell auch um die industrielle Souveränität. Doch die Realität vor Ort spricht eine andere Sprache.
Abbau statt Ausbau – das Paradox von Hayange
Während Paris Subventionen in Milliardenhöhe verteilt, kündigt ArcelorMittal fast zeitgleich den Abbau von rund 600 Arbeitsplätzen an – unter anderem in Hayange, im industriell geprägten Fensch-Tal nahe der Mosel. Dort, wo einst Hochöfen ganze Städte ernährten, droht nun die Deindustrialisierung. Dabei werden in genau diesen Werken Stahlträger produziert, die für den französischen Rüstungssektor unverzichtbar sind. Wie passt das zusammen?
Die Antwort darauf fällt ernüchternd aus. Denn ArcelorMittal ist kein nationaler Betrieb, sondern ein globaler Konzern. Seine Investitionsentscheidungen folgen nicht der französischen Sicherheitsstrategie, sondern einer Logik der globalen Rentabilität. Das Resultat: Frankreich subventioniert – und verliert dennoch Einfluss auf das industrielle Rückgrat seiner Verteidigungsfähigkeit.
Die Abhängigkeit wird zur Schwäche
Der Fall ArcelorMittal zeigt exemplarisch, wie schwer es Europa fällt, wirtschaftliche Resilienz und strategische Autonomie miteinander zu verbinden. Die französische Regierung kann Milliarden für Subventionen mobilisieren, doch sie hat kaum Kontrolle über unternehmerische Entscheidungen. Und sie steht unter Druck: Einerseits muss sie die Rüstungsproduktion aufrechterhalten, andererseits dem öffentlichen Anspruch nach sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz gerecht werden.
Dass ein solch systemrelevanter Industriezweig wie die Stahlproduktion in einer Zeit geopolitischer Unsicherheit mit Standortschließungen droht, ist nicht nur ein wirtschaftliches, sondern ein strategisches Versagen. Es ist die Folge eines Jahrzehnts der industriepolitischen Passivität, die nun mühsam – und oft widersprüchlich – korrigiert wird.
Braucht Frankreich eine neue Stahlordnung?
Eine nationale Stahlstrategie, eingebettet in eine europäische Verteidigungsarchitektur – das wäre der nächste konsequente Schritt. Wer von europäischer „Souveränität“ spricht, darf sich nicht auf die Rüstungslobby beschränken, sondern muss die Produktionsketten mitdenken. Dazu gehört auch die politische Einflussnahme auf Großunternehmen wie ArcelorMittal. Denn wer die Waffen braucht, muss auch über den Stahl bestimmen können, aus dem sie geschmiedet werden.
Frankreich steht heute vor einer unbequemen Wahrheit: Es kann auf dem Papier seine Rüstungsinvestitionen hochfahren – doch wenn es die industrielle Substanz verliert, wird daraus eine gefährliche Illusion. Rüstung ohne Rohstoffe, Strategie ohne Industrie – das funktioniert auf Dauer nicht.
Eine Frage der Prioritäten
Was bleibt, ist ein ernüchternder Befund: Frankreich subventioniert den Stahl, verliert aber die Arbeitsplätze. Es finanziert die grüne Transformation, doch die Produktion wandert ab. Es rüstet auf – und entzieht sich zugleich das materielle Fundament dafür.
Die politische Antwort auf diese widersprüchliche Entwicklung steht noch aus. Sie muss darin bestehen, industrielle Sicherheit wieder als Teil der nationalen Sicherheit zu begreifen. Nicht als bloße Kostenstelle – sondern als strategisches Gut. Solange das nicht geschieht, wird Frankreich zwar mehr Waffen haben – aber vielleicht bald keinen Stahl mehr, um sie zu bauen.
Von Andreas M. Brucker
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