Frankreich, Land der Aufklärung, Land der Säkularität – und plötzlich reden alle wieder über Religion. Genauer gesagt: über Evangelikale. Ein Begriff, der in Frankreich bis vor kurzem nur am Rand der Gesellschaft auftauchte, und heute in den Schlagzeilen landet. Ein Land, das seine Trennung von Kirche und Staat fast so heilig hält wie den Wein im Burgund, sieht sich mit einer spirituellen Bewegung konfrontiert, die wächst – sichtbar, selbstbewusst, manchmal auch provozierend.
Wie passt das zusammen?
Der stille Aufstieg
Lange Zeit schien Religion in Frankreich eine verblassende Erinnerung – leere Kirchen, sonntägliche Gleichgültigkeit, ein Katholizismus, der nur noch zu Weihnachten und Beerdigungen aufleuchtet. Doch während traditionelle Konfessionen müde wirken, leuchten in vielen Städten neue Lichter auf: evangelikale Gemeinden, oft unscheinbar in Industriegebieten, aber randvoll an den Wochenenden.
Nach Zahlen des Conseil National des Évangéliques de France (CNEF) gehören rund eine Million Menschen dieser Bewegung an – und jeden zehnten Tag entsteht irgendwo im Land eine neue Kirche. Das ist kein Einzelfall, das ist ein Trend. Besonders auffällig: Bei den unter 35-Jährigen bezeichnen sich mehr als die Hälfte der Protestanten als evangelikal. Es sind junge Menschen, digital vernetzt, emotional offen, auf der Suche nach Sinn.
Ein 25-jähriger Pariser, ehemals Atheist, erzählt: „Ich war müde von Zynismus und Distanz. In der Gemeinde habe ich das Gefühl, gesehen zu werden.“
Man spürt, dass diese Kirchen etwas anbieten, was der säkulare Alltag selten hergibt: Gemeinschaft, Wärme, einen Ort, an dem man dazugehört.
Der Klang des Glaubens
Wer einen evangelikalen Gottesdienst besucht, versteht schnell, worin der Unterschied liegt. Kein Weihrauch, keine Orgel – stattdessen Gitarren, rhythmische Gesänge, Hände in der Luft. Eine Atmosphäre, die weniger an Liturgie erinnert als an ein Konzert oder ein kollektives Aufatmen.
Hier ist Religion kein Ritual, sondern Erlebnis. „Man spürt die Freude – das ist ansteckend“, sagt eine junge Frau, die vor zwei Jahren aus der katholischen Kirche wechselte.
Die Musik spielt eine zentrale Rolle, ebenso das persönliche Zeugnis. Jeder darf erzählen, wie der Glaube sein Leben verändert hat. Das schafft Nähe, Emotion, Authentizität. Kein Wunder, dass sich diese Form von Spiritualität auch unter Menschen verbreitet, die mit Religion bislang wenig anfangen konnten.
Aber ist das wirklich nur Begeisterung – oder steckt dahinter eine neue Form gesellschaftlicher Suche?
Gemeinschaft in einer zerrissenen Gesellschaft
Frankreichs Gesellschaft kämpft mit Individualismus, sozialer Spaltung, Identitätsdebatten. Die evangelikalen Kirchen wirken wie Gegenentwürfe dazu. Hier umarmt man sich, hier betet man füreinander, hier entstehen Netzwerke, die soziale Isolation auffangen.
In vielen Gemeinden engagieren sich Freiwillige in Nachbarschaftshilfen, Migrantenprojekten, Musikschulen. Besonders in den Banlieues, wo der Staat oft fehlt, ist das Engagement evangelikaler Gruppen sichtbar – und manchmal lebensverändernd.
Ein Pastor aus Lyon beschreibt es so: „Wir reden nicht über Integration – wir leben sie.“
Gleichzeitig ist der Erfolg dieser Gemeinden auch ein kulturelles Signal: Ein Teil der Bevölkerung sucht wieder nach einer Sprache für Spiritualität. Nicht als Rückschritt, sondern als Ergänzung zu einem Lebensstil, der sonst wenig Raum für Transzendenz lässt.
Von der Karibik bis Clermont-Ferrand
Viele Gemeinden verdanken ihre Energie auch der Migration. Afrokaribische, kongolesische, madagassische und lateinamerikanische Gemeinschaften prägen das Gesicht des französischen Evangelikalismus.
In Paris, Marseille oder Toulouse sind ihre Kirchen oft bunt, laut, voller Leben. Aber längst ist das kein rein migrantisches Phänomen mehr. Immer mehr Französinnen und Franzosen ohne religiöse Herkunft schließen sich an.
Diese Mischung verändert die Szene – sie wird pluraler, lebendiger, französischer. Ein neues Mosaik des Glaubens entsteht.
Zwischen Hoffnung und Misstrauen
Doch das Wachstum ruft auch Skepsis hervor. Manche Medien warnen vor möglichen „Dérives sectaires“, also sektenähnlichen Strukturen. Einzelne Fälle von Missbrauch oder fragwürdiger Praxis haben das Bild bereits getrübt.
Das CNEF bemüht sich um Transparenz, erstellt Ethikrichtlinien, organisiert Schulungen. Die Bewegung weiß, dass sie beobachtet wird – in einem Land, das Religion stets kritisch prüft.
Ein weiteres Spannungsfeld: das Verhältnis zu den traditionellen protestantischen Kirchen. Manche reformierten Pastoren fürchten, der emotionale Stil der Evangelikalen könne das theologische Profil des Protestantismus verwässern. Andere sehen darin schlicht eine neue Sprache des Glaubens.
Ist das also Erneuerung oder Verflachung? Die Antwort hängt wohl davon ab, welche Sehnsucht man selbst in die Religion projiziert.
Laizität und Sichtbarkeit
Frankreichs Grundprinzip, die Laïcité, verlangt strikte Trennung von Religion und Staat. Doch wenn eine Bewegung wächst, wird sie zwangsläufig sichtbar – und damit politisch.
Evangelikale Organisationen äußern sich zu Bioethik, Familie, Flüchtlingspolitik. Dabei geht es selten um Parteipolitik, sondern um Werte. Trotzdem ruft jede öffentliche Stellungnahme Reaktionen hervor.
Einige Beobachter warnen vor amerikanischem Einfluss – andere sehen gerade darin eine Chance, das französische Verständnis von Glaube und Öffentlichkeit zu erneuern.
Die Frage bleibt: Wie viel Religion verträgt die französische Republik?
Kein Boom, sondern eine Verschiebung
Der Aufstieg der Evangelikalen ist weniger ein plötzlicher „Boom“ als eine langsames Umwälzung. Über Jahrzehnte waren sie da, nur klein, verstreut, unsichtbar. Heute nutzen sie soziale Medien, Streaming-Gottesdienste, Jugendfestivals wie das „DNJ“ (Dynamique Jeunesse), wo Tausende junge Gläubige ausgelassen tanzen und beten.
Diese Bewegung versteht es, sich im 21. Jahrhundert neu zu erfinden – mit Instagram, Podcasts und Lobpreis-Playlists. In Zeiten, in denen viele Institutionen an Vertrauen verlieren, wirken ihre Gemeinden wie Orte der Stabilität.
Doch ob dieses Feuer dauerhaft brennt, bleibt offen. Spirituelle Bewegungen leben von Leidenschaft – und die kann verglühen, wenn Strukturen fehlen. Die Herausforderung liegt darin, das Emotionale mit dem Dauerhaften zu verbinden.
Ein Spiegel der französischen Gesellschaft
Letztlich erzählt das evangelikale Erwachen weniger über Religion als über Frankreich selbst. Über eine Gesellschaft, die trotz Rationalismus nach Sinn hungert. Über Menschen, die Nähe suchen in einer Welt, die Distanz feiert. Über den Mut, wieder zu glauben – nicht unbedingt an Dogmen, sondern an Gemeinschaft, Hoffnung, vielleicht sogar an Wunder.
Ob das eine religiöse Renaissance ist oder nur ein Zwischenton im säkularen Konzert Frankreichs, wird sich zeigen. Doch wer das Land verstehen will, sollte diese Bewegung nicht übersehen. Denn sie verrät viel über seine stillen Bedürfnisse – und über das, was im Innersten der Republik brodelt.
Ein Artikel von M. Legrand
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