Tag & Nacht




An einem Tag, der niemals in der breiten Öffentlichkeit gefeiert wurde, veränderte sich Frankreichs Gesellschaft grundlegend. Am 13. April 1946 beschloss die französische Nationalversammlung, die legalen Bordelle zu schließen. Ein Schritt, der nicht nur ein jahrhundertealtes Gewerbe beendete, sondern auch ein Symbol dafür wurde, wie politische Entscheidungen das Selbstverständnis einer ganzen Nation in Frage stellen können – besonders dann, wenn Frauen ihre Stimme erheben.

Marthe Richard, eine Frau mit mehr Leben in ihrer Biografie als manch eine Romanfigur, stand im Mittelpunkt dieser historischen Wende. Ex-Spionin, Kriegsheldin, Stadträtin – und eben jene, die mit unbeirrbarer Entschlossenheit gegen das staatlich geregelte Prostitutionssystem kämpfte. Die Ironie? Sie selbst hatte in ihrer Jugend in einem Bordell gearbeitet.

Doch Marthe Richard hatte genug gesehen – und erlebt. Sie war überzeugt: Eine moderne, zivilisierte Gesellschaft kann sich nicht damit abfinden, dass Frauenkörper wie Waren angeboten und staatlich kontrolliert werden. Die Abschaffung der „Maisons closes“ war für sie ein moralischer Imperativ.

Klingt einfach, war es aber nicht.

Denn Frankreich war gespalten.

Ein Teil der Bevölkerung begrüßte das Gesetz als längst überfällige Maßnahme im Sinne der Frauenrechte. Endlich, so der Tenor, würde man sich von einem System verabschieden, das zwar unter dem Deckmantel der Kontrolle lief, in Wahrheit aber ein Instrument männlicher Dominanz war. Die Bordelle – oft romantisiert – waren für viele Frauen keine „sicheren Häfen“, sondern Orte der Ausbeutung und systematischen Entmenschlichung.

Andere wiederum kritisierten den Schritt als überhastet und gefährlich. Ihre Argumente: Durch die Schließung der Bordelle würden Sexarbeiterinnen ins Dunkelfeld gedrängt – ohne Schutz, ohne medizinische Versorgung, ohne rechtliche Sicherheit. Der Staat ziehe sich aus der Verantwortung, anstatt bessere Bedingungen zu schaffen. Und: Das Bedürfnis nach Prostitution würde nicht verschwinden – nur unsichtbarer werden.

Ein moralischer Sieg oder ein sicherheitspolitisches Eigentor?

Noch heute, fast 80 Jahre später, ringt Frankreich mit den Konsequenzen dieses Gesetzes. Es ist nicht nur ein Kapitel der Geschichte, sondern auch ein Spiegel der gegenwärtigen Debatten um Selbstbestimmung, staatliche Verantwortung und den Umgang mit Sexualität in der Öffentlichkeit. Frankreich hat seither verschiedene Modelle ausprobiert – von der Kriminalisierung der Freier bis hin zur Förderung von Ausstiegsprogrammen für Prostituierte.

Doch wie erfolgreich war all das wirklich?

Die Statistik zeigt: Die Zahl der Prostituierten hat sich nicht drastisch verringert. Vielmehr hat sich das Gewerbe verlagert – auf die Straße, ins Internet, in versteckte Apartments. Die Arbeitsbedingungen vieler Frauen sind prekärer geworden. Das Gesetz hat ein Problem aus der Sichtbarkeit entfernt, aber nicht zwangsläufig gelöst.

Gleichzeitig hat sich der öffentliche Diskurs verändert. Marthe Richards Initiative wirkt bis heute nach – als Symbol für eine Frauenpolitik, die Haltung zeigt. Sie legte einen Grundstein für eine Debatte, die bis in unsere Zeit reicht: Wie schaffen wir eine Gesellschaft, in der niemand gezwungen ist, seinen Körper zu verkaufen? Und wie unterscheiden wir zwischen Schutz und Bevormundung?

Inmitten dieser Fragen stehen oft die Betroffenen selbst – die Sexarbeiterinnen, deren Stimmen viel zu selten gehört werden. Ihre Perspektiven sind nicht homogen. Manche empfinden ihre Arbeit als selbstbestimmt, andere als Zwang. Es wäre zu einfach, ein einheitliches Narrativ über Prostitution zu stricken. Aber genau das macht die politische Auseinandersetzung so komplex – und wichtig.

Der 13. April 1946 markiert deshalb weit mehr als die Schließung von Bordellen. Er steht für ein Ringen um Werte, für eine Gesellschaft im Wandel, für weibliche Selbstermächtigung. Und für den Mut, verkrustete Systeme in Frage zu stellen.

Marthe Richard hat einen Stein ins Rollen gebracht, der nicht mehr zum Stillstand gekommen ist.

Man könnte sagen: Es war ein stilles Erdbeben.

Von C. Hatty

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