Es gibt Tage, die auf dem Papier feierlich wirken – aber nur selten tiefer berühren. Der Europatag, begangen am 9. Mai, droht in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu verblassen, irgendwo zwischen kommunaler Kulturwoche und internationalem Aktionstag. Dabei markiert dieses Datum den vielleicht kühnsten politischen Entwurf des 20. Jahrhunderts: die Vorstellung eines geeinten Europas, geboren aus den Trümmern zweier Weltkriege.
Heute, 2025, ist dieser Entwurf nicht nur aktueller, sondern auch gefährdeter denn je.
Die europäische Einigung, die mit Robert Schumans Vorschlag begann, Kohle und Stahl – also Kriegspotenzial – unter eine gemeinsame Verwaltung zu stellen, war nicht nur wirtschaftlich clever. Sie war ein moralisches Versprechen: Nie wieder Krieg auf diesem Kontinent, nie wieder nationale Alleingänge, nie wieder ideologischer Fanatismus ohne Gegengewicht. Dieses Versprechen trug über Jahrzehnte. Es brachte uns offene Grenzen, einen gemeinsamen Binnenmarkt, eine Währung und eine bisher nie dagewesene Freizügigkeit. Für viele junge Europäer ist das Reisen zwischen Helsinki, Lissabon und Athen heute so selbstverständlich wie für frühere Generationen der Gang zur Dorfkirmes.
Doch was ist geblieben von diesem Traum?
Der Europatag 2025 fällt in eine Zeit, in der die Einigkeit Risse zeigt. Die Migrationsfrage bleibt ungelöst. Rechtspopulistische Bewegungen dringen immer weiter in die politischen Zentren der Mitgliedstaaten vor. Die europäische Digitalpolitik hinkt der Realität der Tech-Giganten aus den USA und China meilenweit hinterher. Und geopolitisch? Da wirkt Europa oft wie ein zögerlicher Zaungast, während in Washington, Moskau und Peking Fakten geschaffen werden.
Aber Europa ist eben keine geopolitische Maschine. Es ist kein Block, der sich durch Muskeln oder schnelle Entscheidungen definiert. Es ist eine Idee – ein Versprechen auf Frieden, Vielfalt und gemeinsamen Wohlstand. Diese Idee lebt durch Kompromisse. Sie atmet durch ihre Widersprüche. Wer heute einen einheitlichen europäischen „Willen“ einfordert, wird enttäuscht werden. Europa, das ist ein Gespräch in vielen Stimmen, manchmal ein Streit, aber immer ein Versuch, zusammenzubleiben.
Natürlich: Man kann sich über Bürokratien ärgern, über Fördergeld-Irrsinn und Sprachregelungen, die selbst Juristen ins Schwitzen bringen. Aber wer Europa auf seine Verwaltung reduziert, verkennt das Wesentliche: dass es sich hier um das bislang erfolgreichste Friedensprojekt der Menschheitsgeschichte handelt. Und um ein Bollwerk gegen jene Kräfte, die in einer fragmentierten Welt ihre Macht durch Spaltung suchen.
Man stelle sich nur für einen Moment vor, was ohne Europa wäre: Wäre der Krieg in der Ukraine nicht noch näher an uns herangerückt? Hätten wir im Angesicht von Pandemie oder Inflation wirklich besser abgeschnitten, jeder für sich allein? Wer glaubt, dass nationale Alleingänge heute noch funktionieren, hat den globalen Kontext entweder nicht verstanden – oder will ihn absichtlich ausblenden.
Gerade deshalb braucht es den Europatag als Erinnerung. Und nicht nur als Erinnerung, sondern als Weckruf. Denn Europa ist nicht selbstverständlich. Es ist nicht „da“ wie ein Berg oder ein Fluss. Es existiert, weil wir es jeden Tag aufs Neue schaffen – oder eben scheitern lassen.
Dabei hat Europa auch heute noch eine Anziehungskraft, von der viele träumen. Denken wir an die Beitrittskandidaten auf dem Balkan, an die Ukraine oder an Georgien. Für sie ist Europa keine bürokratische Belastung, sondern ein Lichtstreif am politischen Horizont – ein Versprechen auf Stabilität und Zukunft.
Natürlich darf man Kritik äußern. Natürlich muss man Europa reformieren, effizienter, bürgernäher, demokratischer machen. Aber das geht nur von innen. Wer Europa verbessern will, darf es nicht von außen beargwöhnen, sondern muss es gestalten. In den Parlamenten, in den Medien, im Alltag. Und ja, manchmal auch auf der Straße.
Was also tun am Europatag? Eine Flagge hissen? Ein Konzert besuchen? Warum nicht. Doch das Entscheidende passiert im Kopf: die Frage, ob wir weiter an diesen Kontinent glauben – an seine Werte, an seine Möglichkeiten. Und ob wir bereit sind, ihn zu verteidigen. Nicht mit Waffen, sondern mit Haltung.
Denn: Wer, wenn nicht wir? Und wenn nicht jetzt – wann?
Andreas M. Brucker
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