In Washington kommt es am 18. August zu einer Szene, die es so in der modernen Diplomatie noch nicht gegeben hat. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj tritt nicht als Einzelkämpfer vor den amerikanischen Präsidenten Donald Trump, sondern bringt ein politisches Gefolge mit, das an die Formationen historischer Friedenskongresse erinnert: Emmanuel Macron, Friedrich Merz, Keir Starmer, Giorgia Meloni, Alexander Stubb und Donald Tusk, flankiert von Ursula von der Leyen, António Costa und NATO-Generalsekretär Mark Rutte.
Dass sich eine solch breite europäische Front im Weißen Haus einfindet, ist weit mehr als symbolische Unterstützung für Kiew. Es ist ein Akt strategischer Selbstbehauptung.
Ein präventiver Kraftakt
Die Erinnerung an die turbulente Begegnung zwischen Selenskyj und Trump im Februar sitzt tief: harsche Worte, gegenseitige Vorwürfe, ein Gespräch, das abgebrochen wurde. Die Europäer wollten diesmal kein Risiko eingehen. Mit ihrer Präsenz schaffen sie einen Schutzschirm für Selenskyj – und zugleich einen Resonanzraum, in dem Trumps Impulsivität gedämpft werden soll.
Der Schritt ist ungewöhnlich, doch er offenbart ein neues Selbstverständnis. Europa will sich nicht länger in die Zuschauerrolle drängen lassen, wenn es um die Bedingungen für ein mögliches Kriegsende in der Ukraine geht.
Botschaft an Trump – und an Moskau
Der Auftritt hat zwei Adressaten. In Richtung Washington lautet die Botschaft: Europa steht nicht nur rhetorisch hinter Kiew, sondern wirft auch sein gesamtes politisches Gewicht in die Waagschale. Zugleich richtet sich die Botschaft auch nach Osten: Moskau soll sehen, dass die transatlantische Solidarität nicht bröckelt, sondern im Angesicht der Unsicherheit noch enger wird.
Dass Trump über territoriale „Kompromisse“ nachdenkt, ist kein Geheimnis. Für die Europäer ist genau das der neuralgische Punkt. Mit der vereinten Reise nach Washington wollen sie verhindern, dass ein künftiger Verhandlungsrahmen allzu stark entlang russischer Vorstellungen gezogen wird.
Ein Signal neuer Eigenständigkeit
Doch es geht um mehr als um Schadensbegrenzung. Europa sendet in Washington auch ein Signal nach innen: Die sicherheitspolitische Emanzipation von den Vereinigten Staaten wird zwar noch Jahre brauchen, doch die Konturen zeichnen sich ab. Die Delegation demonstriert, dass europäische Staaten in der Lage sind, ihre Interessen geschlossen zu vertreten – auch gegenüber einem amerikanischen Präsidenten, der nur zu gerne als Alleingänger agiert.
Man darf die Tragweite allerdings nicht überschätzen: Am Ende entscheidet Trump, ob er bereit ist, sich auf die Argumente seiner europäischen Gäste einzulassen. Aber die Episode zeigt, dass sich die Logik des transatlantischen Verhältnisses verschiebt. Europa sucht die Bühne und verlässt den Hinterhof.
Der gemeinsame Auftritt in Washington ist deshalb mehr als eine diplomatische Geste. Er ist der Versuch, Trump in einen politischen Rahmen einzubinden, den er allein vielleicht zu sprengen versucht hätte. Ob das Manöver gelingt, bleibt offen. Sicher ist nur: Mit ihrem beispiellosen Schulterschluss haben die Europäer gezeigt, dass sie die Kunst der Machtdemonstration neu zu lernen beginnen.
Von Andreas Brucker
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