Tag & Nacht

Wieder ein dunkler Tag an der Côte d’Opale. 230 Menschen wurden am Sonntag aus dem Ärmelkanal gerettet, zwei Leichen an den Stränden von Berck-sur-Mer entdeckt. Und doch bleibt die Situation unverändert: Die Geretteten tauchen unter, verschwinden in den Dünen – bereit für den nächsten Versuch, England zu erreichen.

Bruno Cousein, Bürgermeister von Berck, spricht von einer tiefen Ohnmacht. „Es ist moralisch sehr schwer, das mitanzusehen, ohne echte Lösungen bieten zu können.“ Sein Stadtgebiet wird immer häufiger zum Schauplatz dieser humanitären Tragödie.

Gerettet – aber ohne Perspektive

Die Einsatzkräfte tun, was sie können. Die Schutzorganisation SNSM und andere Rettungsdienste bergen Menschen aus dem eiskalten Wasser, oft völlig unterkühlt. In Notunterkünften bekommen sie trockene Kleidung, vielleicht einen heißen Tee. Und dann?

„Sobald sie wieder aufgewärmt sind, verschwinden sie in die Natur“, schildert Cousein. In improvisierten Lagern, verborgen in den Dünen, warten sie auf die nächste Gelegenheit, um auf ein Boot zu steigen.

Warum bleiben sie nicht in Frankreich? Warum nehmen sie solch tödliche Risiken in Kauf?

Die Antwort ist so einfach wie bitter: Sie haben keine andere Wahl.

Eine hochriskante Route – und eine systematische Strategie

Die Art und Weise, wie Menschen über den Ärmelkanal flüchten, hat sich verändert. Schleuserbanden organisieren die Überfahrten mit beängstigender Perfektion.

Die Methode? „Taxi-Boat“.

Schleuser setzen Schlauchboote weit draußen ins Wasser, oft kilometerweit von der Küste entfernt. Flüchtlinge, die bis zur Hüfte im eiskalten Wasser stehen, steigen dann auf. Warum dieses System? Weil die Polizei an Land die Abfahrt verhindern könnte – im Wasser greift das Gesetz anders.

Einmal in internationalen Gewässern, gibt es kein Zurück. Französische Behörden dürfen nicht mehr eingreifen. Die britischen Behörden wiederum setzen auf eine harte Linie, schicken Boote oft zurück oder lassen sie treiben – was die Gefahr noch erhöht.

Die Rolle der lokalen Behörden – zwischen Pflicht und Verzweiflung

Für Bürgermeister wie Bruno Cousein ist die Lage kaum auszuhalten.

Die Rettungskräfte tun ihr Bestes, doch die Strukturen reichen nicht aus. Selbst Minderjährige, manche erst 15 Jahre alt, verweigern jede Hilfe, weil sie nur ein Ziel haben: Großbritannien.

Cousein erklärt resigniert: „Wir könnten ihnen Unterkünfte anbieten, aber sie wollen nicht bleiben. Sie nehmen das Risiko lieber erneut auf sich.“

Diese Situation ist für viele Gemeinden entlang der Küste zum Alltag geworden. Eine humanitäre Krise direkt vor unserer Haustür, aber ohne eine politische Lösung in Sicht.

Ein Europa ohne Antworten?

Seit Jahren diskutieren Politiker über den Umgang mit der Migration am Ärmelkanal. Mehr Grenzkontrollen? Härtere Strafen für Schleuser? Bisher hat nichts verhindert, dass Menschen in wackeligen Booten ihr Leben riskieren.

Die eigentliche Frage lautet: Warum gibt es keine sicheren Alternativen?

Flüchtlingsorganisationen fordern legale Wege nach Großbritannien – etwa humanitäre Visa oder spezielle Aufnahmeprogramme für gefährdete Gruppen. Doch weder London noch Paris haben bisher ernsthafte Lösungen auf den Tisch gelegt.

Stattdessen bleibt alles beim Alten: Die Boote kommen. Die Menschen sterben. Und Europa schaut zu.

Wie viele Opfer braucht es noch, bevor sich wirklich etwas ändert?

Von C. Hatty

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