Tag & Nacht




Man kann den Appell zur Blockade am 10. September 2025 kritisieren, ablehnen, für überzogen halten. Man kann ihn sogar, wie François Bayrou es tut, für „indéfendable“ erklären – unhaltbar, unvertretbar. Doch man sollte ihn nicht ignorieren. Denn „Bloquons tout“ ist weit mehr als ein digital entfesselter Aufruf zur Sabotage des öffentlichen Lebens. Es ist der Ausdruck einer politischen Erschöpfung, einer sozialen Erschütterung, einer tiefen Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten. Wer in diesem Aufbegehren nur Anarchie und Protestlust erkennt, verkennt die eigentliche Krise: eine Krise der demokratischen Repräsentation.

Bayrou, moralischer Architekt des Macronismus, repräsentiert wie kaum ein anderer die intellektuelle Raison d’État der Regierung: Stabilität durch Disziplin, Reformen durch Entschlossenheit. Es ist eine Haltung, die auf dem Papier konsistent wirkt – gerade in einem Land mit hoher Staatsverschuldung, stagnierender Produktivität und einem überkomplexen Sozialsystem. Doch Politik ist keine Planskizze. Sie ist ein lebendiger, widerständiger Dialog mit der Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit zeigt sich in Umfragen, auf den Straßen, in der Sprache der Unzufriedenen.

Die politische Logik des Durchregierens

Frankreichs Regierung hat sich in den vergangenen Jahren an eine bestimmte Logik gewöhnt: Reformvorschlag – Protest – Durchsetzung. Sei es bei der Rentenreform, der Schulpolitik oder zuletzt der Haushaltskonsolidierung – stets folgte auf den Aufschrei die Verkündung der Notwendigkeit, flankiert von technokratischem Pathos und juristischer Raffinesse. Die Instrumentalisierung des Artikels 49.3 der Verfassung, um Parlament und Opposition zu umgehen, wurde zur Norm, nicht zur Ausnahme. Doch diese Routine hat ihren Preis: Sie zementiert das Misstrauen, vertieft die Spaltung, entzieht der demokratischen Auseinandersetzung ihre Legitimität.

Bayrou, selbst einst Kritiker der „République du coup de force“, müsste dies besser wissen. Sein Einsatz für langfristige Planung und institutionelle Balance stand stets im Kontrast zur kurzfristigen Machttaktik. Dass er nun in der Kritik am 10. September nur Verantwortungslosigkeit erkennt, wirkt wie ein Bruch mit seiner eigenen politischen Biografie. Gerade er müsste dafür eintreten, dass Reformen nicht nur richtig gemeint, sondern auch demokratisch verhandelt sind.

Ein sozialer Riss quer durch die Republik

Was derzeit unter dem Hashtag #BloquonsTout entsteht, ist kein klassischer Gewerkschaftsprotest, keine Parteimobilisierung, keine uniforme Bewegung. Es ist ein amorphes Aufbegehren, gespeist aus Frust, Angst, Ohnmacht – aber auch aus politischer Fantasie. Menschen, die sich politisch obdachlos fühlen, suchen neue Ausdrucksformen. Dass sie dabei auf unkonventionelle, ja disruptive Mittel zurückgreifen, ist kein Zeichen von Zerstörungswut, sondern von demokratischem Vakuum.

Der Vorwurf der „Unverantwortlichkeit“ mag aus Sicht der Exekutive nachvollziehbar sein. Doch er reicht nicht aus, um einen politischen Moment zu begreifen, in dem 63 % der Bevölkerung den Protest unterstützen. Wer so breite Zustimmung erfährt, hat zumindest das Recht, gehört zu werden – nicht paternalistisch belehrt, sondern auf Augenhöhe ernst genommen.

Zuhören als politischer Imperativ

Was Frankreich jetzt braucht, ist kein weiteres Durchregieren, kein moralischer Tadel von oben, sondern ein Moment des Innehaltens. Ein echter Dialog – nicht über Tweets oder Fernsehinterviews, sondern in öffentlichen Foren, parlamentarischen Debatten, institutionell verankerten Prozessen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, eigene Pläne zu überdenken, Zeitpläne zu verschieben, neue Allianzen zu suchen.

François Bayrou könnte in diesem Prozess eine vermittelnde Rolle spielen – nicht als Verteidiger des Status quo, sondern als Mittler zwischen Rationalität und sozialer Realität. Er, der sich zeitlebens gegen die Polarisierung der Fünften Republik gestellt hat, sollte nicht jetzt in das Lager jener verfallen, die Kritik als Angriff auf den Staat selbst verstehen. In einer Zeit wachsender gesellschaftlicher Fragilität wäre es sein Amt, politische Räume zu öffnen – nicht, sie vorsorglich zu verschließen.

Am 10. September wird Frankreich sich wieder einmal selbst befragen: Wer spricht für wen? Wer hört wem zu? Und wer hat überhaupt noch das Mandat, zu entscheiden? Wenn daraus mehr erwächst als ein Tag der Lähmung, wenn Regierung und Zivilgesellschaft die Sprache des Kompromisses wiederfinden – dann könnte aus dem Protest sogar ein demokratischer Gewinn werden. Doch dazu braucht es ein anderes Staatsverständnis: eines, das nicht nur bestimmt, sondern auch lauscht.

Von Andreas Brucker

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