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Frankreich und Algerien stecken in einer der tiefsten diplomatischen Krisen der vergangenen Jahrzehnte. Die jüngste Eskalation entzündete sich an einem territorialen Dauerbrenner Nordafrikas – dem Status des Westsahara-Gebiets – und kulminierte in der spektakulären Festnahme des Schriftstellers Boualem Sansal. Seine Geschichte steht exemplarisch für eine geopolitische Verschiebung, bei der politische Symbolik, kulturelle Identität und strategische Interessen aufeinandertreffen.

Der Stein des Anstoßes: Westsahara als geopolitisches Minenfeld

Im Sommer 2024 bekannte sich Frankreich offen zur marokkanischen Souveränität über die Westsahara – ein Gebiet, das seit Jahrzehnten zwischen Marokko, dem von Algerien unterstützten Unabhängigkeitsbündnis der Polisario-Front und der internationalen Gemeinschaft umstritten ist. Während Rabat diesen französischen Schulterschluss als diplomatischen Triumph feierte, reagierte Algier scharf: Für die algerische Führung bedeutet diese Anerkennung nicht nur eine außenpolitische Brüskierung, sondern eine strategische Demütigung.

Die Westsahara-Frage berührt in Algerien empfindliche Nerven: Sie steht für das Selbstverständnis als Führungsmacht des antikolonialen Widerstands in Nordafrika – und für die Verteidigung des Völkerrechts gegenüber als hegemonial empfundenen Positionen europäischer Staaten. Frankreichs Schritt markierte daher einen Bruch mit einer jahrzehntelangen diplomatischen Ambivalenz gegenüber dem Konflikt und wurde in Algier als klarer Seitenwechsel zugunsten Marokkos gelesen.

Boualem Sansal – zwischen Literatur und Staatsräson

Vor diesem Hintergrund geriet Boualem Sansal, einer der prominentesten frankophonen Intellektuellen Algeriens, ins Fadenkreuz. Der Autor, der für seine systemkritischen Romane und seine pointierte Analyse der algerischen Gesellschaft bekannt ist, wurde am 16. November 2024 am Flughafen von Algier festgenommen – offiziell wegen „Verstößen gegen die nationale Sicherheit“. Sansal selbst sieht in seiner Verhaftung einen direkten Zusammenhang mit der diplomatischen Eiszeit zwischen Paris und Algier: Seine enge Verbindung zum früheren französischen Botschafter und seine Verteidigung der französischen Westsahara-Position hätten ihn zur Zielscheibe gemacht.

In einem Interview erklärte er: „Ich kontrolliere jedes meiner Worte“, und deutete an, dass sein Fall Teil eines größeren politischen Kalküls sei. Diese Einschätzung ist nicht unbegründet: Der Schriftsteller wurde vor wenigen Wochen überraschend durch eine präsidentielle Gnade von Abdelmadjid Tebboune freigelassen – ein Akt, der weniger juristische Logik als politische Signalwirkung entfaltet.

Worte wie Waffen: „Krieg“ als Metapher und Strategie

Sansal spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kriegserklärung“ Algeriens an Frankreich – eine Wortwahl, die aufhorchen lässt. Tatsächlich handelt es sich nicht um eine militärische Konfrontation, sondern um einen vielschichtigen diplomatischen Konflikt: Der wechselseitige Abzug von Botschaftern, die Aussetzung von Visaabkommen, ein weitgehender Stillstand bilateraler Projekte im Bildungs- und Sicherheitsbereich – all dies dokumentiert eine tiefgreifende strategische Entfremdung.

Der Begriff „Krieg“ verweist auf eine neue Qualität dieses Konflikts: Es ist ein Kampf um Deutungshoheit, um Narrative, um Einfluss im Maghreb. Frankreichs neue Nähe zu Rabat wird in Algier nicht nur als geopolitisches Manöver gewertet, sondern als historische Illoyalität – eine Infragestellung der besonderen Beziehungen, die seit der Unabhängigkeit 1962 beide Länder verbinden, so konfliktreich sie auch immer waren.

Paris zwischen Realpolitik und postkolonialen Fallstricken

Für die französische Regierung unter Emmanuel Macron war die Neupositionierung in der Westsahara-Frage vor allem strategisch motiviert: Marokko gilt als stabiler Partner, insbesondere in Sicherheitsfragen, Migrationskontrolle und wirtschaftlicher Kooperation. Doch diese realpolitische Neujustierung erfolgt auf Kosten der Beziehung zu Algier – einem Land, das für Frankreichs Energieversorgung, für die Einwanderungspolitik und nicht zuletzt aus historischen Gründen von zentraler Bedeutung ist.

Die Entscheidung für Rabat und gegen eine neutrale Haltung im Westsahara-Konflikt kann daher auch als Ausdruck einer neuen außenpolitischen Doktrin Frankreichs gelesen werden: weg von postkolonialen Rücksichten, hin zu machtpolitischer Klarheit. Doch diese Neujustierung birgt Risiken: Der Vertrauensverlust in Algier ist tief – und kann mittelfristig auch Auswirkungen auf Frankreichs Stellung in Afrika insgesamt haben.

Algeriens strategische Antwort: Souveränität durch Symbolpolitik

Algier seinerseits versucht, aus der Krise politisches Kapital zu schlagen. Die Affäre Sansal ist Teil einer breiteren Strategie der Regierung Tebboune, nationale Souveränität als unantastbares Prinzip zu inszenieren – auch um von innenpolitischen Spannungen abzulenken. Die Kontrolle über kulturelle Diskurse, die Polarisierung entlang außenpolitischer Linien und das gezielte Spiel mit der öffentlichen Meinung dienen dazu, die algerische Position zu festigen – innen wie außen.

Der Fall Sansal ist dabei mehr als nur eine Repression gegen einen kritischen Intellektuellen. Er symbolisiert eine Phase der Reorientierung, in der Algerien sich demonstrativ gegen westliche Einmischung positioniert – und darin einen Schulterschluss mit anderen Staaten der globalen Südhalbkugel sucht.

Die Krise zwischen Frankreich und Algerien ist damit kein isoliertes bilaterales Problem, sondern Ausdruck eines tiefer liegenden Wandels: Europas ehemalige Kolonialmächte verlieren an Gestaltungsmacht, während ihre früheren Partner neue Wege der Selbstbehauptung suchen – oft durch Konfrontation.

Frankreich steht nun vor der Herausforderung, seine Rolle im Maghreb neu zu definieren – ohne sich von historischen Belastungen lähmen zu lassen, aber auch ohne die komplexe Empfindlichkeit der Region zu unterschätzen. Der Fall Sansal zeigt exemplarisch, wie aus einem literarischen Schicksal ein geopolitisches Symbol wird – und wie kulturelle Freiheit, strategische Interessen und nationale Identität in einem einzigen diplomatischen Moment aufeinandertreffen.

Autor: P. Tiko

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