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Die 48 Stunden nach Sébastien Lecornus Rücktritt zeigen die institutionelle Erschöpfung der Fünften Republik

Der Rücktritt von Sébastien Lecornu nach nur 27 Tagen im Amt des französischen Premierministers markiert weit mehr als ein persönliches Scheitern. Innerhalb von zwei Tagen legte sich ein grelles Licht auf die tiefe Funktionsstörung des französischen politischen Systems – ein System, das zwischen institutioneller Erstarrung, parteipolitischer Fragmentierung und einem präsidialen Machtvakuum taumelt.


Ein Mandat ohne Mehrheit

Als Emmanuel Macron Anfang September 2025 den jungen, erfahrenen Vertrauten Sébastien Lecornu zum Premierminister ernannte, verband er damit die Hoffnung, dem zerrissenen politischen Zentrum neues Leben einzuhauchen. Doch schon die Ausgangslage war ziemlich aussichtslos. Nach den vorgezogenen Parlamentswahlen von 2024 verfügte kein Lager über eine absolute Mehrheit: Weder das Mitte-Bündnis „Renaissance“ noch die Republikaner, Sozialisten oder die linkspopulistische „La France insoumise“ (LFI) sind regierungsfähig.

Lecornu, zuvor Verteidigungsminister, versuchte, sich durch eine pragmatische Haltung von seinem Vorgänger François Bayrou abzugrenzen. Er versprach, den berüchtigten Artikel 49.3 – der es der Regierung erlaubt, Gesetze ohne Abstimmung durchzusetzen – nur als letztes Mittel zu nutzen, und suchte stattdessen einen „Dialog mit allen Kräften des Landes“. Doch das politische Klima ist vergiftet. Die Kompromissbereitschaft, auf die das parlamentarische System angewiesen wäre, blieb Illusion.


Erste Risse am Koalitionsgefüge

Schon bei der Vorbereitung der Regierungsbildung zeigte sich, dass Lecornus Versuch einer Öffnung zum Scheitern verurteilt war. Mehrere Minister der konservativen Republikaner (LR) drohten mit Rücktritt, nachdem ihre Partei nur unbedeutende Ressorts erhalten sollte. François Bayrou, Chef der Zentrumspartei MoDem und unglücklicher Vorgänger Lecornus, protestierte lautstark gegen die „Marginalisierung“ seines Lagers.

Diese Konflikte waren keine taktischen Episoden, sondern Ausdruck einer strukturellen Krise. In einem politischen Feld, in dem persönliche Loyalitäten, parteitaktische Kalküle und ideologische Reinheit einander blockieren, war Lecornu von Anfang an eine Übergangsfigur – ohne eigene Mehrheit, ohne Rückhalt in der Assemblée nationale, ohne sichtbaren Plan.


Zwei Tage zwischen Macht und Ohnmacht

Am Morgen des 6. Oktober reichte Lecornu seine Demission im Élysée ein. Präsident Macron akzeptierte sie – und betraute ihn zugleich mit einer letzten Mission: 48 Stunden lang sollte er versuchen, doch noch eine „Plattform der Stabilität“ zu schaffen. Der Auftrag war symbolisch, fast theatralisch. Denn schon bald sickerte durch, dass Lecornu nicht bereit war, im Fall eines Erfolgs erneut die Regierung zu führen.

Diese Episode legte die ganze Tragik der französischen Gegenwartspolitik offen. Lecornu war de facto Premierminister eines Landes ohne Regierung, Unterhändler eines Präsidenten ohne Mehrheit und Mediator eines Systems, das sich selber lähmt. Weder die Sozialisten noch die Republikaner, weder die Grünen noch die Linkspopulisten wollten sich auf ein gemeinsames Programm einlassen. Die Fronten zwischen den Blöcken blieben unversöhnlich.


Der Stillstand als Systemzustand

Was sich in diesen zwei Tagen abspielte, war weniger eine Krise als die Offenbarung einer Dauerkrise. Die Fünfte Republik, 1958 auf die Autorität des Präsidenten zugeschnitten, steht im Jahr 2025 vor einem strukturellen Paradox: Das Präsidialsystem verlangt Durchsetzungsfähigkeit, das Parteiensystem produziert Unregierbarkeit.

Ohne Mehrheit im Parlament kann kein Premier Gesetzesvorhaben durchbringen; ohne funktionierende Legislative verliert der Präsident seine Handlungsbasis. Die Folge ist ein institutioneller Stillstand, der in Brüssel und an den Finanzmärkten zunehmend Besorgnis auslöst. Der Financial Times zufolge reagierten Investoren mit wachsendem Misstrauen auf den politischen Schwebezustand: steigende Risikoaufschläge, schwankende Kurse französischer Staatsanleihen, zunehmende Skepsis gegenüber der Haushaltsstabilität.

Zudem zeichnet sich ab, dass Macron – inzwischen politisch weitgehend isoliert – den letzten verbliebenen Hebel nutzt: die Drohung einer erneuten Auflösung der Nationalversammlung. Doch eine weitere Parlamentswahl könnte die Fragmentierung eher vertiefen als beheben.


Ermüdung der Institutionen

Die französische Öffentlichkeit reagiert zunehmend mit Gleichgültigkeit auf die Abfolge von Rücktritten, Krisensitzungen und Neuverhandlungen. Seit 2024 haben sich drei Regierungen im Amt abgelöst, keine davon dauerte länger als einige Monate. Der fortgesetzte Ausnahmezustand des Regierens unterminiert nicht nur das Vertrauen in die Parteien, sondern auch in die demokratische Effizienz des Staates selbst.

Politikwissenschaftler in Paris sprechen von einer „institutionellen Erschöpfung“: Die Mechanismen der V. Republik – einst Garant für Stabilität – seien in einer Gesellschaft, die nach Dialog und Repräsentation verlangt, zu starr geworden. Der Versuch, das alte Machtmodell durch technokratische Pragmatik zu retten, verstärkt nur den Eindruck, dass Politik sich im Kreis dreht.


Ein Präsident scheint Schachmatt

Für Emmanuel Macron ist Lecornus Rücktritt ein schwerer Rückschlag. Der Präsident, dessen zweite Amtszeit ohnehin von schwindender Zustimmung und Autorität geprägt ist, sieht sich ohne verlässliche Mehrheiten, ohne stabile Regierung und ohne politische Reservebank. Jede Personalentscheidung wird zur Frage der Legitimität seines eigenen Systems.

Macrons Machtbasis beruht noch auf der Rolle des Moderators zwischen Blöcken, doch selbst diese Position verliert an Gewicht. Die extreme Rechte des Rassemblement National (RN) profitiert von der Lähmung des Zentrums, während auf der Linken das Bündnis „Nouveau Front populaire“ zwischen Sozialisten, Grünen und LFI in sich zerfällt. Frankreich steuert damit auf ein institutionelles Niemandsland zu – in dem weder klare Mehrheiten noch dauerhafte Opposition existieren.


Frankreich erlebt in diesen Tagen die Agonie eines politischen Modells, das seine eigene Modernität überlebt hat. Die Fünfte Republik, geboren aus der Krise von 1958, hat sich über Jahrzehnte durch ihre Stabilität ausgezeichnet. Nun droht sie an genau diesem Prinzip zu scheitern: an der Unfähigkeit, Mehrdeutigkeit und Pluralismus in Regierungsfähigkeit zu übersetzen. Lecornus Rücktritt ist kein Unfall, sondern Symptom einer Republik, die in ihren eigenen Mechanismen gefangen ist – und deren Zukunft ungewisser kaum sein könnte.

Autor: Andreas M. Brucker

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