Tag & Nacht




Es ist ein Datum, das zunächst kaum Aufmerksamkeit auf sich zog – dabei hätte es längst im Kalender der französischen Republik einen festen Platz verdient: der 10. Mai. Erst im Jahr 2006 erklärte Frankreich diesen Tag offiziell zum nationalen Gedenktag zur Abschaffung der Sklaverei. Ein historischer Akt, zweifellos. Aber auch ein Akt, der die Frage aufwirft: Warum hat das so lange gedauert?

Die Antwort fällt ernüchternd aus. Frankreich hat sich schwergetan mit seiner kolonialen Vergangenheit. Zu groß war die Versuchung, das eigene Erbe auf die revolutionären Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu reduzieren. Zu bequem die Vorstellung, als „Wiege der Menschenrechte“ sich nicht dieselbe Selbstkritik zumuten zu müssen wie etwa Großbritannien oder Belgien. Der 10. Mai ist damit auch ein stilles Eingeständnis – eines, das längst überfällig war.

Frankreichs Rolle im transatlantischen Sklavenhandel war keine Randnotiz, sondern zentraler Bestandteil eines Systems ökonomischer Ausbeutung. Millionen Menschen wurden aus Afrika verschleppt, in den französischen Kolonien versklavt, ihrer Identität beraubt, ihrer Würde. Die Zuckerrohrplantagen auf Guadeloupe, die Kaffeeplantagen auf Réunion, die Baumwollfelder auf Saint-Domingue – sie alle florierten auf dem Rücken von Versklavten. Wer heute in Paris durch die prunkvollen Alleen schlendert, muss wissen: Auch dort steckt Kolonialgeschichte in Stein und Fassade.

Doch das Schweigen über diese Epoche hielt sich hartnäckig. In Schulbüchern, öffentlichen Debatten, Museen – lange Zeit wurde die Geschichte der Sklaverei bestenfalls marginalisiert, schlimmstenfalls beschönigt. Erst mit der wachsenden politischen Stimme der afro-karibischen Community rückte das Thema ins Zentrum der Debatte. Frankreich musste lernen, zuzuhören. Und: Verantwortung zu übernehmen.

Der Gedenktag am 10. Mai ist ein Schritt in diese Richtung. Er ist Symbol – aber nicht nur. Denn mit ihm zieht sich ein roter Faden durch Frankreichs Erinnerungskultur, ein Faden, der bislang zu oft lose hing. Die Entscheidung, diesem Tag einen offiziellen Charakter zu geben, war mutig – weil unbequem. Sie zwingt dazu, sich mit der Widersprüchlichkeit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.

Denn wie kann man von universellen Menschenrechten sprechen, wenn man die Opfer eines der größten Menschheitsverbrechen über Jahrhunderte ignorierte? Diese Diskrepanz offenbart sich heute nicht nur in den Geschichtsbüchern, sondern auch im sozialen Gefüge Frankreichs. Wer aufmerksam durch die Vorstädte von Paris, Marseille oder Lyon fährt, erkennt: Die Nachwirkungen kolonialer Herrschaft sind real. In Form von Armut, Perspektivlosigkeit, strukturellem Rassismus.

Der Gedenktag darf also kein Wohlfühltermin sein – kein symbolpolitisches Feigenblatt. Er muss Teil einer tiefergehenden politischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung sein. Eine Aufarbeitung, die nicht bei Gedenkminuten endet, sondern konkrete Konsequenzen fordert: in der Bildung, in der Repräsentation, in der Erinnerungskultur.

Die Republik, die sich stolz auf ihre Prinzipien beruft, steht in der Pflicht, diese Prinzipien auch dort gelten zu lassen, wo sie lange ignoriert wurden. Denn was nützt ein Gleichheitsversprechen auf dem Papier, wenn es im Alltag nicht eingelöst wird? Der 10. Mai erinnert nicht nur an das Ende der Sklaverei – er ist ein Prüfstein für die Glaubwürdigkeit französischer Werte.

Erinnerung ist politisch. Sie definiert, wer gehört – und wer vergessen wird. Wer einen Gedenktag schafft, anerkennt die Macht der Geschichte. Doch Anerkennung reicht nicht aus. Es braucht den Willen, aus ihr heraus zu handeln.

Frankreich hat diesen Schritt spät getan. Aber es hat ihn getan. Und das allein ist – trotz aller berechtigten Kritik – ein Anfang. Ein Land, das sich seiner Vergangenheit stellt, entscheidet sich bewusst für ein ehrlicheres Selbstbild. Nicht für eines, das stolz auf jedes Kapitel ist, sondern für eines, das sich nicht länger wegduckt vor dem, was lange im Schatten lag.

Der 10. Mai ist ein Datum der Erinnerung. Aber auch eines der Verpflichtung. Und man darf fragen: Wann wird aus Erinnerung endlich Gerechtigkeit?

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