Ein Dorf wie aus dem Bilderbuch: Gerberoy, 104 Seelen, 120.000 Besucher im Jahr. Was nach Postkartenidylle klingt, wird im Sommer zur Zerreißprobe – für die Nerven der Anwohner, die Infrastruktur und das fragile Gleichgewicht zwischen Authentizität und Attraktivität.
Die gepflasterten Gassen leuchten. An den bunt gestrichenen Fensterläden ranken sich Rosen, Hortensien, Glyzinien. Es duftet nach Lavendel und Landluft. Wer hierherkommt, bleibt nicht unberührt – das ist fast sicher.
Gerberoy liegt im Departement Oise, nur einen Katzensprung nördlich von Paris. Ein Ort, der in der Liste der „Plus Beaux Villages de France“ längst ein fester Name ist. Doch der Preis des Ruhms? Hoch.
Denn Jahr für Jahr strömen mehr Menschen in dieses winzige Dorf. Die einen im Campingbus, wie Yvette und ihr Mann, andere per Auto oder Rad, zu Fuß, organisiert oder spontan. „Wir fast alle Dörfer, die in der Umgebung liegen“, sagt Yvette mit einem Schulterzucken. Gerberoy sei ein Muss. Punkt.
Doch während Touristen Selfies mit Rosen machen, wünschen sich manche Einwohner einfach nur – Ruhe.
„Man freut sich auf Montagmorgen“
Hervé wohnt an der Hauptstraße, direkt an der Front des Besucherstroms. „Es bringt mehr Ärger als Nutzen“, sagt er ohne Umschweife. Am Wochenende ist sein Haus von früh bis spät von Stimmen, Motorengeräuschen und Menschenmengen umgeben. Autos parken kreuz und quer, Blumen verschwinden von Beeten, Mülltonnen quellen über.
„Wir wollen unser Paradies nicht verlieren“, sagt er, und da klingt nicht Nostalgie, sondern Sorge mit.
Delphine, die seit ihrer Kindheit in Gerberoy lebt und das Restaurant ihrer Eltern übernommen hat, kennt die Schattenseiten des Erfolgs ebenfalls. Zwischen Mai und Juni, der Hochsaison der Blüten, gleichen ihre Arbeitstage einem Marathon. „Wir sind zu dritt im Service – und es ist kaum zu schaffen.“
Wenn 120.000 Besucher auf 104 Einwohner treffen
Die Zahlen sprechen für sich: Vor zehn Jahren kamen rund 80.000 Menschen jährlich. Heute sind es 40.000 mehr – Tendenz steigend. Für ein Dorf ohne Supermarkt, ohne Parkhaus, mit einer Handvoll Gastronomiebetrieben und wenigen öffentlichen Toiletten, ist das eine Herausforderung.
Bürgermeister Pierre Chavonnet sieht Handlungsbedarf – und will gegensteuern. Eine Idee: Parkplätze nur noch per Vorabreservierung. So ließen sich die Massen besser dosieren, Stoßzeiten entzerren. Auch ein gebührenpflichtiges Parksystem steht zur Diskussion, um die Besucher stärker an den Kosten für Müllentsorgung, Reinigung und Infrastruktur zu beteiligen.
Denn wenn sich sonntags um elf bereits die Mülltonnen unter ihrer Last biegen, wird klar – Gerberoy ist nicht für den Massenansturm gebaut.
Zwischen Blütenpracht und Balanceakt
Doch wie rettet man einen Ort, den alle lieben, ohne ihn zu verlieren? Wie schützt man seine Seele, ohne sich abzuschotten?
Ein Drahtseilakt.
Denn die Gäste bringen auch Leben – in die Restaurants, in die kleinen Läden, verbreiten den Ruf des Ortes. Viele, die kommen, meinen es gut, benehmen sich achtsam. Doch alle? Leider nicht.
So bleibt Gerberoy ein Paradebeispiel für die Frage: Wie viel Tourismus verträgt ein Dorf?
Die Antwort liegt irgendwo zwischen Parktickets und Poesie. Zwischen Blumendiebstahl und wirtschaftlicher Notwendigkeit. Zwischen ländlichem Rückzugsort und Selfie-Hotspot.
Und vielleicht auch in der Erkenntnis, dass selbst ein Blütenmeer irgendwann Pflege braucht – und Raum zum Atmen.
Autor: Andreas M. B.
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