Tag & Nacht




Es gibt Momente, in denen sich das demokratische Fundament einer Gesellschaft bewähren muss – oder daran scheitert. Die Verurteilung Marine Le Pens zur Unwählbarkeit ist ein solcher Moment. Nicht, weil sie politisch brisant wäre, sondern weil sie offenlegt, wie tief das Misstrauen gegenüber rechtsstaatlichen Prinzipien inzwischen reicht. Ein Land, das sich zu den ältesten Demokratien der Welt zählt, sieht sich nun mit der Frage konfrontiert, ob Justiz überhaupt noch unabhängig urteilen darf, wenn das Urteil eine prominente Politikerin betrifft.

Marine Le Pen wurde nicht für ihre Meinung, nicht für ihre politische Haltung, nicht für ihre Parteizugehörigkeit verurteilt. Sie wurde verurteilt, weil sie gegen das Gesetz verstoßen haben soll – weil sie sich öffentliche Gelder auf unzulässige Weise zunutze gemacht haben soll. Es ist bezeichnend – und verstörend –, wie rasch nach der Urteilsverkündung Stimmen laut wurden, die das Ganze als politischen Schauprozess abtun. Diejenigen, die immer wieder den „tiefen Staat“ beschwören, sehen sich nun in ihrem Weltbild bestätigt: Eine politische Elite, so ihr Narrativ, will mit juristischen Mitteln eine ihrer gefährlichsten Gegnerinnen zum Schweigen bringen.

Doch das ist ein Trugbild, gefährlich und destruktiv. Was hier untergraben wird, ist nicht Le Pens politische Karriere, sondern das Vertrauen in das Prinzip der Rechtsgleichheit. Der Glaube, dass jemand, der Macht besitzt, sich über Regeln hinwegsetzen kann – oder umgekehrt: dass die Anwendung von Recht auf mächtige Personen per se ein Machtmissbrauch sei –, zersetzt die Substanz jeder demokratischen Ordnung.

Natürlich kann man den Zeitpunkt des Urteils kritisieren. Man kann auch fragen, ob andere Verfahren – gegen Politiker aller Couleur – mit derselben Konsequenz verfolgt werden. Doch diese Diskussion darf nicht dazu führen, die Anwendung des Rechts selbst in Frage zu stellen. Denn was wäre die Alternative? Ein Sonderstatus für hochrangige Politiker? Immunität für Machtmissbrauch, solange er sich in einem nationalistischen, populistischen oder wie auch immer gearteten Gewand präsentiert?

Was derzeit in Frankreich geschieht, ist ein Lackmustest. Für die Stärke der Demokratie. Für die Belastbarkeit der Justiz. Und für das politische Klima in einem Land, das sich längst im Vorwahlkampf befindet. Le Pen hat sich in den vergangenen Jahren zur Identifikationsfigur für ein Millionenpublikum entwickelt, das sich von der politischen Mitte verraten fühlt. Ihr Absturz – ob nun endgültig oder nicht – trifft daher nicht nur eine Person, sondern eine ganze Bewegung.

Doch genau deshalb ist es umso wichtiger, dass der Rechtsstaat hier Haltung zeigt. Nicht triumphierend, nicht mit Häme, sondern mit nüchterner Konsequenz. Wenn die Justiz einen Straftatbestand feststellt, muss sie handeln. Alles andere wäre ein Kniefall vor politischer Erpressung durch Empörung. Es kann nicht sein, dass Lautstärke über Recht entscheidet, oder Wählerpotenzial über Gesetzestreue.

Es ist schwer, diese Entscheidung nicht auch emotional zu betrachten. Denn was hier verhandelt wurde, ist weit mehr als ein Einzelfall. Es ist ein Stellvertreterkonflikt zwischen demokratischem Prinzip und populistischer Rhetorik. Zwischen Institutionen und Instinkt. Zwischen Regeln und Revolte. Le Pens Anhänger sehen in ihr die letzte Bastion gegen ein „System“, das sie als korrupt empfinden. Doch wenn selbst die Justiz nicht mehr Recht sprechen darf – was bleibt dann?

Am Ende steht eine unbequeme Wahrheit: Wer Regeln bricht, muss Konsequenzen tragen. Das ist kein Angriff auf die Demokratie – es ist ihre Verteidigung. Die eigentliche Gefahr für eine freie Gesellschaft liegt nicht in der juristischen Verurteilung einer Politikerin. Sie liegt in der Vorstellung, manche Menschen seien zu groß, zu mächtig, zu wichtig, um für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen zu werden.

Gerechtigkeit kennt keine Wahlurnen. Sie folgt dem Gesetz, nicht der Stimmung. Und das ist auch gut so.

Ein Kommentar von Andreas M. Brucker

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