Tag & Nacht

Der Wechsel der Jahreszeiten ist mehr als nur ein meteorologisches Phänomen. Für Menschen auf der ganzen Welt symbolisieren die vier Wendepunkte des Jahres – zwei Sonnenwenden und zwei Tagundnachtgleichen – bedeutende Momente im Kalender. Besonders die Herbst-Tagundnachtgleiche hat im Laufe der Geschichte eine tiefe kulturelle, spirituelle und praktische Bedeutung erhalten.

Was ist die Herbst-Tagundnachtgleiche?

Die Herbst-Tagundnachtgleiche markiert den Moment, an dem Tag und Nacht nahezu gleich lang sind. Dies geschieht, wenn die Sonne genau über dem Äquator steht. Für die nördliche Hemisphäre fällt dieser Moment meist auf den 22. oder 23. September, während in der südlichen Hemisphäre die Tagundnachtgleiche im März stattfindet. Mit der Herbst-Tagundnachtgleiche beginnt kalendarisch der Herbst – die Tage werden kürzer, die Nächte länger, und die Natur bereitet sich langsam auf den Winter vor.

Doch was für uns heute eine simple astronomische Beobachtung ist, wurde in vergangenen Zeiten mit tiefer symbolischer und kultureller Bedeutung aufgeladen. Menschen sahen diese Zeit als eine Schwelle zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Leben und Tod – und dieses Gleichgewicht wurde in vielerlei Hinsicht zelebriert.

Die Tagundnachtgleiche in der Antike: Balance und Dankbarkeit

In vielen alten Kulturen war die Tagundnachtgleiche ein heiliger Moment. Für die Ägypter markierte sie einen wichtigen Punkt im Erntezyklus. Sie verbanden den Herbst mit der Zeit der Ernte, des Überflusses und der Dankbarkeit. In dieser Phase des Jahres wurde dem Gott Osiris, dem Gott der Unterwelt und der Wiedergeburt, besondere Ehre erwiesen. Der Tod des Sommers und die Ankunft des Herbstes galten als sinnbildlich für Osiris‘ Zyklus von Tod und Wiedergeburt.

Die alten Griechen erlebten eine ähnliche Symbolik. Die Göttin Persephone, Tochter der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, kehrte zur Herbst-Tagundnachtgleiche in die Unterwelt zurück. Dort musste sie ein Drittel des Jahres bei Hades verbringen, wodurch die Natur in einen Zustand der Ruhe und des Rückzugs überging. Die Rückkehr Persephones im Frühling symbolisierte das Erwachen der Natur und die Wiederkehr des Lebens.

Auch im alten Rom spielte die Tagundnachtgleiche eine wichtige Rolle. Die Römer feierten im September die „Festum Cereris“, ein Fest zu Ehren der Göttin Ceres, der römischen Entsprechung der Demeter. Dieser Zeitpunkt war ebenfalls der Höhepunkt der Erntezeit und eine Gelegenheit, Dankbarkeit für die Früchte der Erde zu zeigen.

Das Erntefest in der europäischen Geschichte

Mit dem Aufstieg des Christentums wurde die Tagundnachtgleiche nach und nach in kirchliche Rituale eingebunden. Während viele heidnische Bräuche christlich überlagert wurden, blieb das Erntedankfest in Europa eine feste Tradition. In Deutschland wird dieses Fest typischerweise am ersten Sonntag im Oktober gefeiert, während in den USA das Erntedankfest („Thanksgiving“) auf den vierten Donnerstag im November fällt.

Das ursprüngliche Erntedankfest war ein bäuerliches Ritual, bei dem die Menschen Gott für eine gute Ernte dankten. Es war eng mit dem bäuerlichen Jahreszyklus verbunden, der in vielen europäischen Ländern die Lebensgrundlage darstellte. Alte Traditionen, wie das Schmücken des Altars mit Getreide, Obst und Blumen, sind bis heute erhalten geblieben. Der Altar symbolisiert den Dank für die Fülle der Ernte und das Versprechen, in den kommenden dunkleren Monaten versorgt zu sein.

Herbst-Tagundnachtgleiche im Osten: Mondfest und Chuseok

Auch im Osten hat die Herbst-Tagundnachtgleiche eine tiefe Bedeutung. In China wird während dieser Zeit das Mondfest gefeiert, eines der wichtigsten traditionellen Feste im chinesischen Kalender. Es fällt meist auf Mitte September und ist eine Zeit, in der Familien zusammenkommen, um den vollen Mond zu betrachten – der in der chinesischen Kultur für Einheit und Harmonie steht. Der Mondkuchen, eine süße Spezialität, wird zu Ehren dieses Festes gegessen und symbolisiert die Fülle und den Kreis des Lebens.

Südkorea feiert Chuseok, ein Erntedankfest, das auch als „koreanisches Erntemondfest“ bezeichnet wird. Die Menschen besuchen die Gräber ihrer Vorfahren, halten Gedenkrituale ab und danken für die Ernte. Es ist eine Zeit der Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten, in der die Familie im Mittelpunkt steht.

Die spirituelle Dimension: Mabon und moderne Praktiken

In der modernen Zeit, insbesondere in esoterischen und neopaganen Kreisen, ist die Herbst-Tagundnachtgleiche als „Mabon“ bekannt – ein Begriff, der in den 1970er Jahren im Rahmen des Neopaganismus geprägt wurde. Mabon ist eines der acht Feste des Jahreskreises, die im Wicca-Kult und anderen neopaganen Traditionen gefeiert werden. Es steht im Zeichen des Gleichgewichts, aber auch des Loslassens. Während der Sommer seinen Höhepunkt überschritten hat und die Natur in den Rückzug geht, laden viele spirituelle Praktiken dazu ein, sich auf die innere Einkehr zu konzentrieren. Menschen nutzen diese Zeit, um Dankbarkeit für die Fülle des Jahres zu zeigen und sich auf den inneren Winter vorzubereiten.

In diesen spirituellen Praktiken spielen Rituale eine große Rolle. Oftmals werden Altare mit Herbstfrüchten, Nüssen, Äpfeln und Weintrauben geschmückt, und es werden Kerzen entzündet, um das Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkelheit zu symbolisieren. Meditation und Reflexion über den eigenen Lebensweg, Erfolge und Misserfolge des Jahres sind häufige Elemente dieser Feierlichkeiten. So wird die Tagundnachtgleiche zu einer Zeit der inneren Balance.

Die Tagundnachtgleiche in der Moderne: Rückkehr zur Natur

In unserer heutigen Gesellschaft haben viele dieser traditionellen Bräuche überlebt, wenn auch in neuer Form. Während in den Industrieländern der landwirtschaftliche Zyklus für den Alltag vieler Menschen kaum noch von Bedeutung ist, erlebt die Rückbesinnung auf die Natur, vor allem im Kontext der Umweltbewegungen, eine Renaissance.

Obwohl moderne Technologien uns erlauben, uns von den natürlichen Zyklen weitgehend zu entkoppeln, ist das Bedürfnis nach einem Gleichgewicht zwischen Arbeit und Ruhe, Licht und Dunkelheit, in uns tief verwurzelt. Die Herbst-Tagundnachtgleiche bietet Gelegenheit, innezuhalten – und vielleicht ist es gerade das, was wir in einer hektischen Welt mehr denn je brauchen.

Obwohl die astronomische Bedeutung der Tagundnachtgleiche unverändert ist, hat sich der Umgang mit ihr gewandelt. Vom alten Ägypten über Griechenland und Rom bis hin zu den modernen spirituellen Bewegungen zeigt sich jedoch: Der Wechsel von Sommer zu Herbst wird seit Jahrtausenden auf unterschiedliche Weise als ein bedeutsamer Moment im Leben wahrgenommen.


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