Der tödliche Anschlag auf eine Chanukka-Feier am Bondi Beach hat Australien erschüttert – und zeigt, dass der sogenannte Islamische Staat auch Jahre nach dem Verlust seines Kalifats weiterhin eine Bedrohung darstellt. Die Täter, ein Vater-Sohn-Duo mit mutmaßlichen Verbindungen zu einem ISIS-Ableger auf den Philippinen, hinterließen islamistische Propagandasymbole am Tatort. Eine Randnotiz – oder das Symptom eines fortbestehenden globalen Problems?
Die Rückkehr eines verdrängt geglaubten Schreckens
Als Premierminister Anthony Albanese am Tag nach dem Anschlag an die Öffentlichkeit trat, sprach er ungewöhnlich deutlich: Die Tat sei ideologisch motiviert gewesen – von der „Ideologie des Islamischen Staats“. In einem Fluchtwagen wurden zwei selbstgefertigte ISIS-Flaggen gefunden, die Täter sollen sich zuvor mehrere Wochen in Davao im Süden der Philippinen aufgehalten haben – einer Region, die seit Jahrzehnten als Rückzugsort für islamistische Gruppen gilt.
Der Anschlag reiht sich ein in ein bekanntes Muster: dezentrale, ideologisch aufgeladene Gewaltakte, verübt von selbsternannten Dschihadisten, die sich auf eine globale Bewegung berufen, deren territoriale Basis längst zerschlagen wurde. Dass dies dennoch gelingt, verweist auf ein zentrales Paradoxon der Terrorismusbekämpfung im 21. Jahrhundert: Der „Islamische Staat“ lebt weniger als Organisation denn als Idee fort – und bleibt damit schwer fassbar.
Von Raqqa nach Marawi: Der geografische Wandel des Kalifats
ISIS kontrollierte zwischen 2014 und 2017 ein Gebiet größer als Portugal – quer über Syrien und Irak hinweg. Mit der Einnahme von Mossul begann 2017 der militärische Zusammenbruch. Was blieb, waren verstreute Zellen und ideologische Ableger – etwa in Afghanistan (ISIS-K) oder eben auf den südlichen Philippinen.
Die Stadt Marawi auf Mindanao wurde 2017 zum Symbol dieser geografischen Verlagerung. Fünf Monate lang lieferten sich dort philippinische Streitkräfte schwere Gefechte mit ISIS-nahen Kämpfern. Über 1.000 Menschen kamen ums Leben, große Teile der Stadt wurden zerstört. Zwar gelang es dem Militär, die Kämpfer zu vertreiben, doch die Ideologie blieb präsent. Noch 2023 starben vier Menschen bei einem Sprengstoffanschlag während eines katholischen Gottesdienstes in Marawi.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Reise der beiden Bondi-Attentäter nach Davao an Bedeutung. Ermittler prüfen derzeit, ob sie dort Kontakte zu terroristischen Zellen knüpften oder in Trainingscamps geschult wurden. Die Erfahrung zeigt: Schon kurzzeitige Aufenthalte in solchen Regionen können ausreichen, um aus ideologisch empfänglichen Individuen gewaltbereite Täter zu machen.
Die flexible Logik des „virtuellen Kalifats“
Im Unterschied zu al-Qaida, das Anschläge zentral plante und koordinierte, setzt ISIS seit jeher auf eine hybride Strategie. Einerseits operieren weiterhin kleine, koordinierte Einheiten in instabilen Regionen. Andererseits appelliert die Organisation gezielt an Einzeltäter im Westen – über soziale Medien, Propagandavideos und verschlüsselte Kanäle.
Das Besondere: Für einen Anschlag sei keine Rücksprache mit der Organisation nötig, so ein zentrales Narrativ der Gruppe. Es reiche, im Namen des Islamischen Staats zu handeln – und entsprechende Symbole zu hinterlassen. Dieses Konzept der „verteilten Verantwortung“ erschwert die präventive Terrorismusbekämpfung erheblich.
Peter Neumann, Terrorismusforscher am King’s College London, verweist in diesem Zusammenhang auf die Rolle internationaler Konflikte als Katalysatoren. In den letzten zwei Jahren habe insbesondere der Krieg im Gazastreifen ein erhebliches Radikalisierungspotenzial entfaltet – gerade in westlichen Gesellschaften mit polarisierten Debatten über Migration und Sicherheit.
Vom konzertierten Terror zum symbolischen Schock
Dass der Islamische Staat keine komplexen Anschläge mehr wie in Paris 2015 oder Brüssel 2016 verübt, ist ein sicherheitspolitischer Fortschritt. Die Entmachtung der zentralen Kommandostruktur – teils durch gezielte Tötungen, teils durch Gebietsverluste – hat die operative Schlagkraft massiv reduziert.
Doch der Anschlag von Bondi Beach zeigt, dass dies nicht mit einem Ende der Gefahr gleichzusetzen ist. Die heutigen Attacken sind in der Regel weniger koordiniert, aber nicht weniger tödlich. Der Anschlag in Sydney, der mutmaßlich von nur zwei Personen geplant und durchgeführt wurde, forderte 15 Menschenleben. Ähnlich erschütternd war der Anschlag auf ein Konzert in Moskau im März 2024: 149 Tote, mutmaßlich verübt von ISIS-K.
Diese neuen Anschläge zielen weniger auf langfristige Destabilisierung als auf mediale Wirkung und psychologische Erschütterung. Der Terror soll nicht mehr Staaten lähmen, sondern Gesellschaften verunsichern.
Unklare Verbindungslinien – klare Konsequenzen
Noch ist unklar, ob es sich bei den Tätern von Bondi Beach um autonome Akteure oder Mitglieder einer internationalen Zelle handelt. Auch ihr Aufenthalt auf den Philippinen wirft mehr Fragen auf, als derzeit beantwortet werden können. Doch die Umstände deuten darauf hin, dass die Gefahr des „dschihadistischen Pendelns“ – also das Reisen in radikalisierte Regionen mit anschließender Rückkehr – keineswegs der Vergangenheit angehört.
Die Sicherheitsbehörden in Australien und Europa stehen damit vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen müssen sie neue Formen transnationaler Radikalisierung erkennen, bevor sie sich in Gewalt niederschlagen. Zum anderen gilt es, gesellschaftliche Resilienz zu stärken – gegen einen Gegner, der seine Kraft nicht aus militärischer Macht, sondern aus ideologischer Anziehungskraft zieht.
Die Tatsache, dass ISIS weiterhin in der Lage ist, Menschen weltweit zu radikalisieren und zu Anschlägen zu motivieren, zeigt: Der „Krieg gegen den Terror“ ist nicht nur eine sicherheitspolitische Aufgabe – sondern eine politische, gesellschaftliche und kulturelle Herausforderung, die weit über die Schlachtfelder von Syrien und dem Irak hinausreicht.
WEITERE TOP-NACHRICHTEN
Ein Plan zur Unterstützung der ukrainischen Armee
US-amerikanische und europäische Diplomaten, die in den vergangenen zwei Tagen in Berlin mit der ukrainischen Führung zusammengetroffen sind, haben einen Plan ausgearbeitet, um die ukrainische Armee im Rahmen einer Initiative für einen Waffenstillstand zu stärken.
Dem Plan zufolge soll die Größe der ukrainischen Streitkräfte ausgeweitet, die Nutzung amerikanischer Geheimdienstinformationen intensiviert und europäische Truppen in der Ukraine stationiert werden, um eine weitere russische Invasion abzuschrecken – so berichten mit den Dokumenten vertraute Diplomaten. Russland ist jedoch nicht an den Gesprächen beteiligt und zeigt bislang wenig Bereitschaft zu Verhandlungen.
Diese Woche könnte sich als entscheidender Moment für den Kriegsverlauf erweisen, da europäische Staats- und Regierungschefs über einen separaten Vorschlag beraten wollen, wonach eingefrorene russische Vermögenswerte zur Finanzierung der Ukraine und ihres Kriegsaufwands eingesetzt werden sollen.
Trumps Stabschefin – unzensiert
Ein brisanter neuer Artikel fasst ein Jahr voller offener Gespräche mit Susie Wiles zusammen – der sonst eher zurückhaltenden Stabschefin des Weißen Hauses –, in denen sie sich unter anderem über Präsident Trumps „Persönlichkeit wie ein Alkoholiker“ und den sich anbahnenden Krieg in Venezuela äußerte.
Wiles bezeichnete Vizepräsident JD Vance als „Verschwörungstheoretiker“ und nannte Haushaltsdirektor Russell Vought einen „absoluten rechten Fanatiker“.
Auch über Elon Musk äußerte sie sich scharf. „Er ist ein seltsamer, seltsamer Vogel, wie Genies nun einmal sind“, sagte sie. „Wirklich hilfreich ist das nicht, aber er ist eben sein eigener Mensch.“ Zudem bezeichnete sie ihn als „bekennenden Ketamin-Konsumenten“.
WEITERE MELDUNGEN
- Nick Reiner wurde wegen zweifachen Mordes ersten Grades angeklagt – an seinen Eltern, dem Regisseur Rob Reiner und dessen Ehefrau Michele Singer Reiner, wie die Staatsanwaltschaft von Los Angeles mitteilte.
- Donald Trump kündigte an, die USA würden eine Blockade gegen alle „sanktionierten Öltanker“ verhängen, die nach oder aus Venezuela fahren.
- Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, das geplante Verbot für Autos mit Verbrennungsmotor ab 2035 zu überarbeiten.
- Frankreich hat wichtige Teile eines neuen Staatshaushalts verabschiedet – ein seltener Erfolg, nachdem zwei Premierminister in weniger als einem Jahr damit gescheitert waren.
- Brigitte Macron, Frankreichs First Lady, entschuldigte sich – zumindest teilweise – für eine abfällige Bemerkung gegenüber feministischen Demonstrantinnen.
- In der Umgebung von Moskau tötete ein Schüler ein zehnjähriges Kind mit einem Messer – offenbar aus rassistisch-extremistischer Motivation.
- Während der israelische Siedlungsbau im Westjordanland rapide zunimmt, können palästinensische Menschen das Land zunehmend nicht mehr durchqueren.
Autor: P. Tiko
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