Tag & Nacht




Herr Merz, heute ist Ihr Tag. Sie stehen auf dem Höhepunkt einer politischen Karriere, die viele bereits für beendet hielten. Sie haben es geschafft: Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Zehnter in der Geschichte, aber der erste Ihrer Art. Kein Kanzler der Mitte, kein Verwaltungsprofi im Schatten der Großen. Sie sind gekommen, um zu führen – das haben Sie versprochen. Jetzt müssen Sie liefern.

Ihr Wahlsieg fällt in eine Zeit, in der Europa taumelt. In Paris sitzt ein Präsident, der sich seit Jahren die Zunge fusselig redet, weil er auf ein deutsches „Ja“ wartet: zu einer gemeinsamen Verteidigung, zu einem industriellen Aufbruch, zu einer echten europäischen Souveränität. Emmanuel Macron ist kein einfacher Partner. Aber er ist ein überzeugter Europäer – und er sehnt sich nach einem Gegenüber in Berlin, das nicht nur verwaltet, sondern gestaltet. Bisher hat er vergeblich gewartet.

Jetzt sind Sie dran, Herr Merz.

Sie haben gesagt, Europa sei bedroht. Das stimmt. Von außen durch einen Krieg, der nicht enden will. Von innen durch Populisten, die Mauern bauen wollen, wo Brücken gebraucht würden. Und von den Demokratien selbst, wenn sie in Technokratie erstarren und das Vertrauen ihrer Bürger verlieren. Deutschland war lange das ruhende Zentrum Europas. Vielleicht zu lange. Die Welt ist nicht mehr ruhig.

Frankreich will ein starkes Deutschland – aber nicht ein dominantes. Es will ein Partner sein, kein Bittsteller. Paris wird Ihnen mit Wohlwollen begegnen, aber nicht mit Unterwürfigkeit. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch: ein gemeinsames Rüstungsprojekt, ein europäischer Energieplan, eine Reform der EU-Finanzarchitektur. All das braucht deutsches Engagement, keine deutsche Bedenkenträgerei.

Jetzt sind Sie dran, Herr Merz.

Sie kommen aus dem Sauerland, aus der Provinz. Und doch sind Sie ein global denkender Mensch. Sie verstehen die Märkte, Sie kennen die Sprache der Wirtschaft – aber auch die der Verantwortung. Deutschland darf nicht länger nur Exportweltmeister sein. Es muss Demokratieweltmeister werden. In einer Zeit, in der Trump wieder ins Weiße Haus zurückgekehrt ist, in der Putin weiter Krieg führt und Peking den Westen testet, kann sich Europa keine deutsche Funkstille mehr leisten.

Sie haben gesagt, Sie wollen den „Kanzler der Tat“ geben. Gut. Aber Taten brauchen Richtung. Haltung. Und Mut. Das verlangt Paris. Das verlangt Warschau. Und das verlangt vor allem das eigene Land, das müde geworden ist von lähmender Koalitionsarithmetik und einem „Weiter so“ im Krisenmodus.

Heute haben Sie den Schlüssel zum Kanzleramt erhalten. Jetzt ist es an der Zeit, die Tür zu öffnen – nicht nur zur Macht, sondern zur Zukunft Europas.

Frankreich schaut auf Sie.

Europa zählt auf Sie.

Jetzt sind Sie dran, Herr Merz.

Von Andreas Brucker

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