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Ein wegweisendes Urteil der Europäischen Menschenrechtskonvention (CEDH) sorgt für Aufsehen: Am Donnerstag entschied das Gericht zugunsten einer französischen Frau, die sich gegen eine Scheidung wegen „Verschuldens“ wehrte, die auf ihrer Verweigerung von sexuellen Beziehungen mit ihrem Ehemann beruhte. Die Entscheidung markiert einen wichtigen Meilenstein im Kampf für die Rechte von Frauen und die sexuelle Selbstbestimmung.


Der Fall: Scheidung wegen „Verweigerung der ehelichen Pflicht“

Im Zentrum des Urteils steht eine heute 69-jährige Französin. Ihr Ehemann hatte nach mehreren Jahren ohne sexuelle Beziehung die Scheidung beantragt und diese mit dem „Nichterfüllen der ehelichen Pflicht“ begründet. Zunächst gab das Berufungsgericht von Versailles ihm 2019 recht und erklärte die Scheidung zu Lasten der Ehefrau – eine Entscheidung, die später vom französischen Kassationsgericht bestätigt wurde.

Die Frau legte daraufhin Beschwerde beim CEDH ein und berief sich auf Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens schützt.


Ein klares Urteil: Sexualität bleibt eine freie Entscheidung

Der CEDH stellte unmissverständlich fest, dass jede sexuelle Handlung ohne Zustimmung eine Form sexueller Gewalt darstellt. Es sei nicht hinnehmbar, dass das Einverständnis zur Ehe automatisch als Einverständnis für zukünftige sexuelle Handlungen interpretiert werde. „Eine solche Argumentation würde den strafbaren Charakter der ehelichen Vergewaltigung aufheben“, betonte das Gericht.

Diese Entscheidung sendet ein starkes Signal: Auch in der Ehe ist die sexuelle Selbstbestimmung ein unantastbares Grundrecht. Es könne nicht als „Fehler“ oder „Pflichtverletzung“ gewertet werden, wenn eine Person sexuelle Beziehungen ablehnt – unabhängig von den Umständen.


Ein Wendepunkt für Frauenrechte?

Die Klägerin äußerte in einer Stellungnahme durch ihre Anwältin Lilia Mhissen die Hoffnung, dass dieses Urteil einen Wendepunkt im Kampf für die Rechte von Frauen darstellt. Tatsächlich hat die Entscheidung das Potenzial, über Frankreich hinaus weitreichende Auswirkungen zu haben. Es ist ein deutlicher Schritt in Richtung Gleichberechtigung und gegen tief verwurzelte patriarchale Strukturen, die Frauen jahrhundertelang auf ihre Rolle als „Pflichterfüllerinnen“ reduzierten.


Die juristische Vorgeschichte

Bereits 2018 hatte ein Familienrichter in Versailles entschieden, dass die gesundheitlichen Probleme der Ehefrau ausreichten, um die lange Abwesenheit von Intimität im Eheleben zu rechtfertigen. Dennoch entschied das Berufungsgericht ein Jahr später, dass der mangelnde Vollzug der Ehe als „Fehler“ zu werten sei. Die Klägerin sah sich gezwungen, den Gang durch alle Instanzen anzutreten – bis schließlich der CEDH den Fall übernahm.

Das Urteil des Menschenrechtsgerichts betont nicht nur die Unantastbarkeit der sexuellen Selbstbestimmung, sondern auch die Notwendigkeit, die persönliche Integrität über veraltete gesellschaftliche Normen zu stellen.


Ein starkes Signal für die Zukunft

Was bedeutet dieses Urteil für die Zukunft? Es zeigt deutlich, dass die Grenzen des Einverständnisses auch innerhalb der Ehe respektiert werden müssen. Die Ehe ist kein Vertrag, der bedingungslose sexuelle Ansprüche rechtfertigt. Dieses Urteil stärkt nicht nur die Rechte von Frauen, sondern setzt auch ein Zeichen für alle, die sich in ähnlichen Situationen wiederfinden.

Einmal mehr wird klar: Menschenrechte enden nicht an der Haustür – und schon gar nicht im Schlafzimmer.


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