Tag & Nacht


Der Junge trägt eine Sturmhaube, sitzt auf dem Beifahrersitz eines Autos und grinst in die Kamera. Er spricht über Mord wie andere über ein Wochenende am Meer. Ein Clip von wenigen Sekunden – doch er öffnet ein Fenster in eine Welt, die vielen fremd bleibt. Eine Welt, in der Aufträge über Snapchat laufen, Leben mit Bargeld verrechnet sind und Jugendliche sich als Profikiller fühlen, obwohl sie kaum wissen, wie sich eine Waffe entsichert.

Frankreich schaut seit einigen Jahren in diesen Abgrund. Immer häufiger stammen die mutmaßlichen Täter von Morden im Drogenmilieu aus der Altersgruppe, die eigentlich mit Ausbildung, ersten Lieben und Zukunftsplänen beschäftigt sein sollte. Stattdessen: Pistole, Motorroller, Airbnb-Wohnung. Und dann Stille.

Wie konnte es so weit kommen?

Die nackten Zahlen lassen keinen Raum für Beschönigung. In Mordfällen und Mordversuchen im Zusammenhang mit Drogenhandel ist jeder vierte Verdächtige jünger als zwanzig Jahre, jeder zehnte minderjährig. Vierzehnjährige tauchen in Ermittlungsakten auf – nicht als Opfer, sondern als Schützen. Das allein reicht, um einen Moment innezuhalten.



Ein Satz, der oft fällt bei Ermittlern, Psychologen und Richtern: Diese Jugendlichen leben in einem Paralleluniversum. Eines ohne echte Konsequenzen, ohne Empathie, ohne Vorstellung davon, was eine Kugel im Körper eines Menschen anrichtet.

Und genau dort beginnt das eigentliche Drama.


Vom Schulhof ins Visier

Matéo, achtzehn Jahre alt, ist kein Einzelfall. Aber er steht exemplarisch für eine neue Generation von Auftragskillern. In einem Video prahlt er mit seinen „Verträgen“, lacht, schwört auf das Leben seiner Mutter. Ein Satz wie aus einem schlechten Gangsterfilm – nur dass die Toten real sind.

Bei seiner Festnahme beschreiben ihn Ermittler als kühl, fast leer. Ein Gutachter spricht von emotionaler Abriegelung, von Narzissmus, von fehlender Schuld. Ein Junge, der weint – und sich Sekunden später für diese Tränen schämt. Schwäche passt nicht in das Bild, das er von sich selbst pflegt.

Doch hinter der Maske steckt kein genialer Stratege. Sondern jemand, der früh gelernt hat, dass Gewalt Respekt bringt und Geld Probleme löst. Oder zumindest so tut.

Andere junge Täter wirken ganz anders. Sie brechen im Verhör zusammen, nennen ihre Tat eine „riesige Dummheit“, sagen Sätze wie: Ich habe mein Leben ruiniert. Einer erzählt, er habe die Augen geschlossen beim Schießen, der Arm sei verkrampft gewesen, der Abzug habe sich leergezogen. Ein Geständnis, das gleichzeitig schockiert und erschüttert.

Was sagt das über ihre Vorstellung von Realität?


Ein Klick entfernt vom Mord

Der Weg zum „Job“ führt heute nicht mehr über dunkle Hinterzimmer. Er führt über das Smartphone. Snapchat, Instagram, verschlüsselte Chats – soziale Netzwerke funktionieren als Stellenbörse des Verbrechens. Kurze Nachrichten, Emojis, ein Treffpunkt. Bezahlung in bar oder über Strohmänner.

Fünftausend Euro für ein Leben. Manchmal weniger.

Für die Auftraggeber zählt vor allem eines: Abstand. Je jünger, je unbekannter der Schütze, desto besser. Er kennt weder Opfer noch Hintermänner. Oft kennt er nicht einmal den Fahrer oder den Waffenlieferanten. Jeder bleibt austauschbar, ersetzbar, isoliert.

Ein zynisches System – effizient wie ein Lieferdienst.

Ein Ermittler beschreibt es wie Leiharbeit: heute hier, morgen dort, jederzeit kündbar. Wer auffällt, verschwindet. Wer scheitert, landet im Gefängnis oder im Grab.

Und die Jungen? Viele fühlen sich zum ersten Mal gebraucht. Endlich jemand, der ihnen zutraut, „etwas durchzuziehen“. Endlich Geld, Anerkennung, ein Gefühl von Macht. Klingt irre – ist aber bittere Realität.


Minderjährig und bewaffnet

Der Fall eines vierzehnjährigen Jungen, der einen VTC-Fahrer erschießt, wirkt wie ein Schlag in den Magen. Der Fahrer hatte Kinder im selben Alter. Er merkte, dass sein Fahrgast bewaffnet war. Sekunden später war er tot.

Was geht in einem Jugendlichen vor, der in diesem Alter bereit ist zu schießen?

Eine einfache Antwort existiert nicht. Die Biografien unterscheiden sich. Armut, Gewalt, fehlende Perspektiven spielen oft eine Rolle. Aber nicht immer. Manche kommen aus scheinbar stabilen Verhältnissen. Der gemeinsame Nenner liegt woanders: eine massive Verschiebung von Werten.

Leben verliert seinen Preis.

Tod verliert sein Gewicht.

Ein anderer Vierzehnjähriger wird in der Drôme nach einem Mordversuch festgenommen, versteckt in einer Ferienwohnung. RAID-Beamte holen ihn heraus. Ein Kind mit Pistole, umstellt von schwer bewaffneten Polizisten – ein Bild, das hängen bleibt.

Eltern fragen sich: Wie schützen wir unsere Kinder vor so einer Spirale? Opferfamilien fragen sich: Warum gerade wir?

Und die Gesellschaft? Sie ringt um Antworten.


Die Illusion vom schnellen Aufstieg

Viele dieser Jugendlichen träumen vom Aufstieg in der kriminellen Hierarchie. Heute Schütze, morgen Organisator, übermorgen Boss. Social Media verstärkt diese Fantasie. Luxusautos, Uhren, Bargeldstapel – ein Versprechen von Bedeutung in einer Welt, die sie sonst übersieht.

Doch die Realität sieht anders aus.

Die meisten enden schnell. Entweder tot, verhaftet oder traumatisiert. Kein Netzwerk schützt sie, kein Anwalt kümmert sich. Die Auftraggeber bleiben im Schatten, oft sogar im Gefängnis, von wo aus sie weiter Befehle geben.

Ein Polizist nennt sie „verbrachtes Material“. Hartes Wort. Leider treffend.

Manche Jugendlichen merken erst nach der Tat, was sie angerichtet haben. Dann ist es zu spät. Reue hilft niemandem – weder den Opfern noch ihnen selbst.

Ist es Naivität? Oder pure Verzweiflung?


Polizeiarbeit im digitalen Nebel

Für die Ermittler bedeutet diese Entwicklung Schwerstarbeit. Sie beobachten Netzwerke, erstellen Fake-Profile, lesen Tausende Nachrichten. Ziel: Angebote erkennen, bevor jemand schießt.

Ein Wettlauf gegen die Zeit.

Manchmal hilft der Dilettantismus der Täter. Standortdaten, Fotos, unvorsichtige Chats. Fehler passieren. Aber darauf lässt sich kein System aufbauen. Jeder verhinderte Mord zählt, doch viele bleiben unsichtbar, bis es knallt.

Der Begriff „Narchomizid“ macht die Runde – Mord im Kontext des Drogenhandels. Ein Wort, das sachlich klingt, aber unendlich viel Leid verbirgt.

Polizisten sprechen von Ohnmacht, aber auch von Entschlossenheit. Sie wissen: Repression allein reicht nicht. Prävention beginnt lange vor dem ersten Chat, vor dem ersten Angebot.

In Schulen. In Familien. In Vierteln, die sich abgehängt fühlen.


Parallelwelten mitten unter uns

Was besonders verstört: Diese Jugendlichen laufen tagsüber durch dieselben Straßen wie alle anderen. Sie kaufen Snacks, hängen an Bushaltestellen, lachen. Und nachts bereiten sie Taten vor, die Existenzen auslöschen.

Ein Ermittler formuliert es so: Für sie existiert keine Grenze zwischen Spiel und Realität. Gewalt fühlt sich an wie ein Level in einem Game. Reset gibt es keinen.

Das erklärt keine Tat – aber es hilft, sie zu verstehen.

Und vielleicht verhindert Verständnis den nächsten Schuss.


Ein leiser Gedanke zum Schluss

Niemand wird als Killer geboren. Doch manche wachsen in Umfeldern auf, die Gewalt normalisieren und Menschlichkeit aushöhlen. Wenn ein Vierzehnjähriger zur Waffe greift, dann scheitert nicht nur ein Individuum. Dann scheitert ein System.

Die Opfer zahlen den höchsten Preis. Ihre Familien bleiben zurück mit Fragen, die niemand beantworten kann. Und irgendwo sitzt ein Junge in einer Zelle und begreift langsam, dass Likes und Geld kein Leben ersetzen.

Vielleicht liegt genau dort der einzige Ansatzpunkt: wieder spürbar zu machen, was ein Leben wert ist. Nicht als Parole, sondern als gelebte Realität.

Denn wie viele Kinder mit Pistolen erträgt eine Gesellschaft, bevor sie sich selbst verliert?

Ein Artikel von M. Legrand

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