Man stelle sich vor: Der Kapitän verlässt das sinkende Schiff – und nimmt den Funk mit. Was klingt wie ein schlechter Witz aus der französischen Provinz, ist traurige Realität in Formiguères, einer kleinen Gemeinde in den Pyrenäen. Dort hat sich der Bürgermeister Philippe Petitqueux einfach mal nach Tahiti abgesetzt. Kein Rückflugticket, kein Lebenszeichen, kein „Aloha aus Papeete“ – nichts. Verschwunden. Weg. Abgetaucht. Und das nicht erst seit gestern, sondern seit Juli. Fünf Monate. In Worten: fünf!
Man könnte meinen, der Mann habe einen spirituellen Rückzug in die Südsee angetreten, um endlich Klarheit über die Zukunft der Gemeinde zu finden. Oder vielleicht eine Antwort auf die Frage, wie man ein Bürgermeisteramt per Fernsteuerung führen kann – über tausende Kilometer hinweg, mit Zeitverschiebung und Funkstille. Aber weit gefehlt. Philippe Petitqueux hat nicht meditiert, sondern schlicht und einfach geschwiegen. Und kassiert dabei munter seine Bezüge als Bürgermeister weiter – als ob nichts wäre.
Die Gemeinde? Gelähmt. Die Verwaltung? Ein Kartenhaus im Wind. Die Sitzung des Gemeinderats? Kaum durchführbar, weil das Quorum nicht mehr erreicht wird. Die Sekretärin des Rathauses? Hat sich ebenfalls verabschiedet – und wurde bislang nicht ersetzt. Und die verbliebenen Stellvertreter? Sie rackern sich ab, springen in die Bresche, stemmen Urbanismus, Haushalt, Wasser, Landwirtschaft und Kultur. „Wir dachten, er ruft zurück“, sagt einer von ihnen. Aber – pfff – niente, nada, rien.
In einem Land, das so viel Wert auf republikanische Verantwortung legt, klingt das nach Provinztheater. Doch der Fall ist real – und er ist brandgefährlich. Denn er offenbart nicht nur die Schwächen eines einzelnen Amtsinhabers, sondern die strukturelle Ohnmacht des Systems. Dass ein Bürgermeister sich aus dem Staub machen kann, ohne Konsequenzen, ist ein politischer Offenbarungseid.
Erst Ende Oktober – man höre und staune – hat die Präfektur sich bequemt, einen Brief nach Tahiti zu schicken. Darin steht sinngemäß: Lieber Herr Petitqueux, Sie verwalten die Gemeinde ja gar nicht mehr, vielleicht sollten wir mal über Ihre Bezüge sprechen. Immerhin: Ab Anfang Dezember sollen diese nun tatsächlich ausgesetzt werden. Wie großzügig. Und dann? Auch dann bleibt Formiguères ein Schiff ohne Steuermann, ein Rathaus mit leerem Stuhl und eine Bevölkerung, die sich fragt, ob sie in einer politischen Geisterstadt lebt.
Natürlich, der Rückzug eines Bürgermeisters ist keine Straftat. Man darf Urlaub machen. Auch Bürgermeister. Aber man darf sich nicht unsichtbar machen. Nicht in einem Amt, das auf Vertrauen, Erreichbarkeit und Verantwortung beruht. Wer sich wählen lässt, übernimmt eine Aufgabe. Und wer diese Aufgabe einfach ignoriert, verspielt nicht nur sein Amt, sondern den letzten Rest an Glaubwürdigkeit.
Was bleibt, ist der bittere Nachgeschmack einer Geschichte, die wie eine Provinzposse beginnt, aber das große Ganze trifft. Denn der Fall Petitqueux ist kein Einzelfall. Es gab schon andere. Und es wird weitere geben, solange es keine klaren Regeln, keine automatischen Konsequenzen und keine institutionellen Sicherungen gibt, die solche Aussetzer auffangen.
Vielleicht sollte man in Zukunft schon bei der Amtseinführung klarstellen: Es gibt einen Ehrenkodex, vielleicht sogar einen GPS-Tracker und einen verbindlichen Vermerk, dass das Bürgermeisteramt kein Backpacking-Projekt ist. Wer ins Paradies fliegt, soll dort bleiben dürfen – aber ohne Geld vom Steuerzahler und ohne Titel, der anscheinend zu nichts mehr verpflichtet.
Autor: Andreas M. Brucker
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