Es ist das alte Spiel: Die Regierung setzt auf Härte, und sie wundert sich, wenn die Gesellschaft mit noch mehr Härte zurückschlägt. Bruno Retailleau, der starke Mann im französischen Innenministerium, will mit eiserner Faust „Ordnung schaffen“. Doch was er tatsächlich schafft, ist ein Klima der Angst, der Konfrontation, der Gewaltspirale. Druck erzeugt Gegendruck – das ist keine gewagte These, sondern eine politische Binsenweisheit.
Retailleau spricht von „Unnachgiebigkeit“, von „Disziplin“ und „Nulltoleranz“. Seine Anhänger feiern ihn als Garant der Sicherheit. Doch die Bilder auf den Straßen erzählen eine andere Geschichte: Gewerkschaftler, die in ihren Reden noch von „sozialem Ausgleich“ sprechen, finden sich im Tränengas wieder. Junge Menschen, die gegen ungerechte Reformen demonstrieren, sehen sich mit Schlagstöcken und Wasserwerfern konfrontiert. Die Kluft zwischen dem, was die Politik behauptet, und dem, was sie praktiziert, wächst mit jedem Einsatz.
Eine gefährliche Rhetorik
Retailleau hat die Sprache der Eskalation verinnerlicht. Wer widerspricht, gilt schnell als „Störer“, wer protestiert, als „Feind der Republik“. Solche Worte vergiften das politische Klima. Sie verschieben Grenzen – nicht nur des Sagbaren, sondern auch des Machbaren. Wenn die Regierung den Protest permanent kriminalisiert, wie soll dann noch ein Raum für Dialog entstehen?
Die Gewerkschaften wiederum geben sich gerne als letzte Bastion der Vernunft, als Verteidiger der Demokratie. Doch auch hier ist die Inszenierung trügerisch: Zwischen symbolischer Opferrolle und bewusst kalkulierter Konfrontation verschwimmen die Linien. Was bleibt, ist ein vergifteter Diskurs, in dem beide Seiten die Spirale der Eskalation weiterdrehen.
Ein Land im Griff der Konfrontation
Frankreich kennt die Dialektik von Protest und staatlicher Härte seit Jahrzehnten. Von den Studentenrevolten 1968 bis zu den Gelbwesten – jedes Mal, wenn die Exekutive die Muskeln spielen ließ, formierte sich eine noch entschlossenere Opposition. Die Lehre wäre klar: Repression allein führt nicht zu Stabilität, sondern zur Radikalisierung.
Doch Innenminister Retailleau setzt auf genau diesen Weg. So riskiert er, das Land in einen Dauerzustand der Blockade zu stürzen. Die noch amtsführende Regierung spielt mit dem Feuer – und sie tut es in einer Zeit, in der das Vertrauen in Institutionen ohnehin erodiert.
Die Frage, die bleibt, ist beängstigend einfach: Was, wenn der Innenminister mit seiner Härte nicht die Demokratie schützt, sondern sie selbst gefährdet?
Autor: Andreas M. Brucker
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