Gestern war der Internationale Tag des Gewissens. Kaum jemand hat es bemerkt. Die Nachrichten waren wie immer voll von Bildern des Leids, von Raketen über Gaza, zerstörten Krankenhäusern in der Ukraine, von Schlauchbooten im Mittelmeer – und dazwischen Donald Trump, der mit grimmiger Miene seine Rückkehr ins Weiße Haus inszeniert, als wäre es eine Realityshow mit dem Titel Make Hate Great Again.
Was für ein Zynismus: Ein Tag, der an unser menschliches Gewissen appelliert – während weltweit täglich Entscheidungen getroffen werden, die es verraten.
Trump hat in seinem Wahlkampf angekündigt, im Falle seiner Wiederwahl nicht nur die restriktive Migrationspolitik seiner ersten Amtszeit fortzusetzen, sondern zu radikalisieren. Massendeportationen, Lager für illegale Einwanderer, Streichung jeglicher Schutzprogramme – das ist kein Schreckensszenario mehr, sondern eine offen formulierte und umgesetzte Strategie. Der Präsident der angeblich freien Welt will das Asylrecht de facto abschaffen. Gleichzeitig soll USAID, das amerikanische Entwicklungs- und Hilfsprogramm, drastisch gekürzt oder gleich ganz eingestellt werden. Wer Hilfe braucht, bekommt sie nicht mehr – nicht in Honduras, nicht in Haiti, nicht im Südsudan. America first, humanity last.
Was ist in einer Welt, die sich so verhält, das Gewissen noch wert?
Gewissen – das ist keine abstrakte Moralinstanz. Es ist diese leise, unbequeme Stimme, die nicht schweigt, wenn wir zu bequem, zu abgestumpft oder zu feige geworden sind. Sie fragt uns nicht, ob wir uns politisch links oder rechts verorten. Sie fragt uns: Was tust du, wenn ein Mensch leidet? Was tust du, wenn jemand klopft, der Hilfe braucht? Und vielleicht: Was lässt du zu, weil es dich nicht direkt betrifft?
In Kriegszeiten – und ja, wir leben in einer Welt permanenter Kriege – scheint das Gewissen wie ein nostalgisches Relikt. Doch es ist gerade dann nötiger denn je. Denn Kriege beginnen immer mit der Entmenschlichung. Man hört Wörter wie „Invasoren“, „Illegale“, „Kollateralschäden“. Man baut Mauern, zieht Grenzen, streicht Budgets – und wäscht die Hände in politischer Alternativlosigkeit. Aber nein: Das Gewissen kennt keine geopolitische Strategie. Es sagt nur: Das ist falsch.
Der Internationale Tag des Gewissens ist keine PR-Veranstaltung. Er ist ein stiller, unbequemer Moment. Er fordert uns heraus – nicht nur als Politikerinnen und Wähler, sondern als Menschen. Was sind wir bereit zu sehen? Was sind wir bereit zu tun?
Wir stehen an einem Kipppunkt. Nicht nur ökologisch, wirtschaftlich oder politisch – sondern moralisch. Wenn wir Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen, weil wir ihre Flucht „illegal“ nennen, wenn wir unsere Augen vor zerbombten Schulen verschließen, weil sie im „falschen“ Teil der Welt stehen, wenn wir Entwicklungshilfe streichen und dann die Folgen fürchten – dann verlieren wir etwas, das schwerer wiegt als jedes Bruttoinlandsprodukt.
Dann verlieren wir unsere Menschlichkeit.
Aber das Gewissen – so leise es auch sein mag – bleibt. Es flüstert, manchmal schreit es. Und es ist da. Gestern war sein Tag. Und heute? Heute liegt es an uns, ob wir weiter weghören.
P.T.
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